Oberschlesien in der Aufstandszeit 1918-1921, Teil 2

Erinnerungen und Dokumente von Karl Hoefer Generalleutnant a.D.

Abschnitt 9

Oberschlesien nach Kriegsende und der erste Aufstand 1919

Nach dem langen zermürbendem Weltkrieg kam die Revolution mit ihren erschütternden Folgen, es kam der unselige Waffenstillstand und mit der deutschen staatlichen Ohnmacht begann für den deutschen Osten eine schwere Leidenszeit. Um die Jahreswende 1918/19 entglitt infolge der verantwortungslosen Haltung der nach dem Zusammenbruch neu eingesetzten preußischen Behörden in den Provinzen und des damaligen preußischen Ministeriums des Innern der größte Teil von Posen und Westpreußen der deutschen Herrschaft und wurde von den Polen besetzt.

Oberschlesien entging diesem Schicksal, weil dort noch gerade rechtzeitig im November/Dezember 1918 ein militärischer Schutz organisiert wurde und die Bevölkerung für eine sofortige Überrumpelung zu deutsch gesinnt war. Um es zum Abfall reif zu machen setzte bald, nachdem das deutsche Schicksal besiegelt war, eine großzügige, skrupellose polnische Propaganda in Oberschlesien ein. Von Haus zu Haus, in den Schichtzügen, in den Eisenbahnwagen usw. wurde eifrigst Stimmung für das neue Polenreich gemacht. Jedem Oberschlesier wurden mindestens zwei Kühe, vier Morgen Land, Steuer- und Militärfreiheit in Aussicht gestellt. In Beuthen hatte sich ein Unterkommissariat des polnischen Volksrates aufgetan, welches die Mühlarbeit leitete. Korfanty hat selbst angegeben, dass er zur Vorbereitung des Kampfes mit den Deutschen zahlreiche Organisatoren und die gewandtesten Agitatoren nach Oberschlesien entsandt und mit großen Geldmitteln zum Ankauf von Waffen versehen hätte. Sie hatten viel zündenden Stoff und daher leichtes Spiel. Preußen – Deutschland lag geschlagen und zertrümmert am Boden. Das deutsche Ansehen schwand daher in den Augen des Volkes. Schwere Friedensbedingungen mit hohen Tributen, damit hohe Steuern, teuer Lebensverhältnisse, Elend und Not waren Deutschland sicher und auch die Oberschlesier hatten dies alles mit zu tragen. Die Hetzer hielten ihnen angebliches Unrecht, welches das alte Preußen ihnen zugefügt, vor Augen, sie schoben den Deutschen alle Schuld an dem Elend des Krieges zu und stempelten sie zu den schwersten Verbrechern der Welt. Durch eine der schändlichsten Maßnahmen der Weltgeschichte, die Hungerblockade nach dem Waffenstillstand, steigerte sich die Lebensmittelnot in Deutschland immer mehr, während in Polen, das sich des besonderen Wohlwollens der Siegerstaaten erfreute, durch freie Einfuhr Lebensmittel reichlich vorhanden waren. In ihm winkte somit ein behagliches, sorgloses Leben! Es kam hinzu, dass die sehr streng gläubige Bevölkerung durch die berüchtigten kirchenfeindlichen Programme des sozialdemokratischen Kultusministers Adolf Hoffmann sich in ihrer heiligsten Gefühlen getroffen fühlte. Kein Wunder, dass Begehrlichkeit und verletzte religiöse Gefühle der Agitation Vorschub leisteten und mancher wasserpolnisch sprechende Oberschlesier, welcher bisher treu zu seinem alten Vaterlande gehalten hatte, seinen Vorteil darin sah, aus dem deutschen Chaos herauszukommen und sein Heil von einem Anschluss an Polen erhoffte. Der Geist der Auflehnung, von der Revolution geweckt und begünstigt, ebnete solcher polnischen Propaganda die Bahn.

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Die deutsche Gegenpropaganda aber konnte nicht genügend durchgreifen, da sie an chronischem Geldmangel litt, während die Polen ungemessene Mittel, die sie von guten Freunden erhielten, aufwenden konnten.

Wahrlich, Oberschlesien war es wert, dass hier nicht gespart wurde. Polizei und Gendarmerie waren zur Ohnmacht verurteilt und dem Hohn und Spott des Pöbels preisgegeben. Dafür trieben die zweifelhaften Elemente der Arbeiterräte als angebliche Vertreter von Recht und Gesetz ihr Unwesen im Lande. Anstatt regulären Militärs gab es an vielen Orten Oberschlesiens Volkswehren – allein rechts der Oder waren es 19 Bataillone – die ebenso wie die in den früheren Garnisonen stehenden Ersatzformationen, vielfach ohne Offiziere von Soldatenräten regiert wurden, eine entartete Soldateska ohne militärischen Wert darstellten. Nur etwa drei Formationen, von tatkräftigen Offizieren geführt, zeigten etwas besseren Geist.

In einem Lande, bei dem die Gefahr des Überganges an einen fremden Staat besteht, ist einheitliche Abwehr dringendes Gebot. In Oberschlesien aber herrschten auf deutscher Seite die denkbar verworrensten Zustände. Einflussreiche deutsch – oberschlesische Führer setzten sich für die Schaffung eines „Neutralen Staates Oberschlesien“ ein, da sie glaubten, nur durch diese weitergehende Autonomie Oberschlesien ungeteilt erhalten zu können. Der Verwirklichung dieses Planes diente die Gründung des „Bundes der Oberschlesier“.

Zur Bekämpfung der groß – polnischen und dieser separatistischen Loslösungsbestrebungen von Prußen – Deutschland war in Oppeln bei der Handelskammer die „Freie Vereinigung zum Schutze Oberschlesiens“ gebildet worden. Sie arbeitete zusammen mit der Breslauer Propagandastelle und hat, soweit die bescheidenen Geldmittel es ermöglichten, Ersprießliches geleistet. Die Gründung eines neutralen Oberschlesiens wurde natürlich auch von den deutschen Regierungsstellen bekämpft. Ebenso lehnte die überwiegende Mehrheit des Volkes den Gedanken einer besonderen Republik Oberschlesien ab. Auch die Errichtung eines deutschen Bundesstaates Oberschlesien und die provinzielle Selbständigkeit Oberschlesiens wurden propagiert und vermehrten die Uneinigkeit und Zerrissenheit der Deutschen.

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Innerhalb der Entente spielte sich ebenfalls ein heimlicher Kampf um Oberschlesien ab. Die Amerikaner traten für einen „Neutralen Kohlenstaat“, der das ganze obere Weichselgebiet umfassen sollte, also auch Oberschlesien. England wollte nur das oberschlesische Kohlenbecken als neutralen Kohlenstaat und Frankreich wollte die oberschlesische Waffenschmiede und die reichen Bodenschätze dieses Landes durch Zuteilung an Polen unter seinen Einfluss bringen und gleichzeitig Deutschland nachhaltig schwächen – „20 Millionen Deutsche zu viel!“ Wie ein zweites Elsass – Lothringen sollte die Zuteilung Oberschlesiens an Polen wirken und dieses dauernd an Frankreich ketten.

Der Kampf innerhalb der Entente blieb den Deutschen zumeist verborgen, desto besser waren die polnischen Agitatoren unterrichtet und stellten sich danach ein. In Versailles setzten die Polen alle Hebel in Bewegung, um Oberschlesien mit seiner machtvollen Industrie zu erhalten. Ihre Erfolge in Posen und Westpreußen steigerten noch ihre Ansprüche und in ebenso geschickter wie aufdringlicher Weise legten sie den Machthabern der Welt durch allerhand Beweismittel, die z.T. wir selbst ihnen törichterweise geliefert hatten, wie deutsche Schulatlanten und offizielle deutsche Bücher, ihr moralisches Anrecht auf Oberschlesien dar.

Der Vernichtungswille der Franzosen gegen das Deutschtum, der Größenwahn der Polen und Englands Angst vor neuer künftigen Handelskonkurrenz seitens Deutschland wirkten zusammen gegen uns. Wir aber leisteten nur eine laue Gegenwehr. Vor allem mangelte uns eine zielbewusste Gegenpropaganda durch die Presse, besonders im Auslande.

Die militärische Verantwortung für die Provinz Schlesien, also auch für Oberschlesien trug das Generalkommando VI. Armeekorps in Breslau. Vorgesetzte Behörde dieses Generalkommandos nach der Revolution war der zentral – Grenzschutz – Ost (Zegrost), von Mitte Januar ab das Armeeoberkommando Süd. Von ziviler Seite war der „Zentralrat für die Provinz Schlesien“ ins Leben gerufen worden.

Die Gefahrenlage der Slawenumbrandeten Schlesischen Halbinsel mit einer Grenze von etwa 500km erhellt Skizze 1. Die neu geschaffenen Staaten Polen und Tschechoslowakei, zwischen denen Schlesien wie ein Keil liegt, umlauerten seine Grenzen voll Begierde nach der blühenden Industrie in Oberschlesien und in dem waldenburgischen Gebiet, nach der Grafschaft Glatz, je selbst nach Breslau. Ein Grund hätte sich leicht finden lassen.

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Die Bedrohung durch diese äußeren Feinde war groß, nicht minder aber die durch innere Feinde; denn neben dem Nationalitätenhader und den Wirren der Revolution mit dem zerfetzenden Rätewahnsinn spielten sich in Oberschlesien auch harte soziale Kämpfe ab. Ein großer Streit im November 1918, der bei unserer damaligen Machtlosigkeit üble Folgen hätte haben können, wurde zwar noch beigelegt, aber er hatte gezeigt, dass her schon der Bolschewismus drohend sein Haupt erhob. Die Polen verstanden es ausgezeichnet, die deutschen radikalen Linksparteien für ihre Zwecke auszunutzen. Zur Beleuchtung, wie bedrohlich damals die Lage in Oberschlesien war und wie kläglich unsere militärischen Machtmittel, sei von vielen Vorfällen nur der eine angeführt. Mitte November 1918 erhielt das Generalkommando VI. Armeekorps in Breslau ein Telegramm, das besagte, dass mehrere tausend Polen im Anmarsch von Czenstochau gegen Beuthen – Kattowitz seien. Die dortigen Ersatzbataillone weigerten sich zu kämpfen und der Beuthener Arbeiter- und Soldatenrat erklärte, er habe kein Interesse an der Sache. Das Generalkommando entsandte jetzt mit der Bahn ein fast ganz aus Oberschlesiern der Breslauer Truppen zusammengestelltes Bataillon, die sich ausdrücklich zu kämpfen verpflichtet hatten, nach Beuthen. Dort aber löste es sich eigenmächtig auf und verschwand von der Bildfläche. Die Polen hatten gottlob ihren Vormarsch eingestellt.

In Erkenntnis der großen Gefahr beorderte die Oberste Heeresleitung zunächst die schlesischen Divisionen, die 11., 12. und die mir unterstellte 117. Infanterie – Division in ihre Heimatprovinz zurück. Die 117. Infanterie – Division. war, nachdem sie im Rückmarsch von der Westfront am 28. November 1918 die Gegend um Trier erreicht hatte, von dort aus mit der Eisenbahn in Marsch gesetzt worden. Es war nicht der geringste Anhalt gegeben worden, welche Absichten man noch mit der Division hatte. Wenngleich die Divisionsführung vorsorglich die Truppen vor ihrem Abtransport auf die Gefahren hinweisen ließ, in der die schlesisch Heimat durch die Bedrohung der Polen und Tschechen schwebte und auf die Pflicht, dort, wenn nötig, mannhaft zu helfen, so setzte sich doch bei so vielen die gewünscht Überzeugung durch, dass die Division, wie viele andere, in ihre Aufstellungsprovinz, hier Schlesien, befördert werde, um sofort aufgelöst zu werden.

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Wäre es damals schon klar gewesen, dass man die Division nicht auflösen, sondern noch recht viel von ihr verlangen wollte, dann hätte man noch viel klarer alle Maßnahmen treffen können, um der mit Sicherheit zu erwartenden Erschütterung der Stimmung vorzubeugen. Die Fahrt gab einen kleinen Vorgeschmack davon, wie sehr in den wenigen Tagen seit der Revolution die Grundfesten der Ordnung im Deutschen Reich erschüttert waren. Sie gab aber auch durch manche handfeste Intermezzos mit den Soldatenräten auf den Haltebahnhöfen ein Bild für den in der Truppe noch herrschenden militärischen Geist. In guter soldatischer Ordnung langte die 117. Inf. Div. in Schlesien an; die Gegend von Breslau bildete den Wendepunkt zum Schlechten. Autorisierte Soldatenräte des Zentral- und Soldatenrates der Provinz Schlesien, die von den Ersatzbataillonen und Lazarettinsassen gewählt waren, mit den Feldtruppen nicht das geringste zu tun hatten, reisten den einzelnen Transporten entgegen und klärte sie über die neue Zeit auf. Auch Volksratsmitglieder, diese zumeist alte geschulte Gewerkschaftssekretäre, beteiligten sich an dieser Art Begrüßung. Jeder, so sagten sie, sei nun sein eigener freier Herr und könne tun und lassen, was er wolle. Vorgesetzte gäbe es nicht mehr. Auflösung der Division sei leider noch nicht möglich, die Kameraden würden daher gebeten, nach Oberschlesien zu fahren und dort den Schutz der schlesischen Heimat zu übernehmen. Diese die Beseitigung jeder Autorität bezweckenden Belehrungen seitens der neuen Machthaber und die Missstimmung über die Nichtentlassung zeitigen bald Zersetzungserscheinungen. Die schlechten Elemente gewannen die Oberhand und mit dem guten Geiste der Division war es mit einem Schlage aus. Kein Truppenteil ist ohne starke Erschütterung über Breslau hinweggekommen. Es war ein unsinniges Verfahren, das zur Katastrophe führen müsste. Während sich in der ganzen Zeit bisher nicht ein einziger Mann unberechtigt von der Truppe entfernt hatte, gehörte nunmehr zu Tagesordnung, dass hier einer, dort zwei oder drei, dort ganze Trupps ohne Urlaub sich von der Truppe entfernten und das Wiederkommen vergaßen. Einzelne aus Breslau und Umgegend stammende Transporte weigerten sich sogar die Weiterfahrt anzutreten, und es kostete viel Überredungskunst von Offizieren und auch Soldatenräten, sie dazu zu bewegen. Auf ihre Mitwirkung herbei waren die Soldatenräte sehr stolz, vergaßen hierbei aber, dass allein durch Aufwiegelung es zu den Widersetzlichkeiten gekommen war.

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In Oberschlesien aber erwarteten die Volkswehren, diese Schutztruppen für das schwer gefährdete Heimatland, die eintreffenden Frontdivisionen mit durchaus mit durchaus gemischten Gefühlen. Ein Telegramm des Soldatenrates von Königshütte an das Generalkommando VI. Armeekorps in Breslau gibt u.a. Aufschluss:

„Erheben flammenden Protest gegen Herbeorderung von Grenzschutztruppen. Hier herrscht Ruhe. Sicherheitsmaßnahmen treffen nur wir. Berlin ständig unterrichtet.“

In der Zeit vom 28. bis 30. November 1918 traf die 117. Inf. Div. in Oberschlesien ein und wurde zunächst als Reserve- und Eingreifdivision des Generalkommandos VI. Armeekorps in dem Raume: Ratibor – Cosel – Krappitz versammelt und bereitgestellt; Stabsquartier Cosel. Die Atmosphäre, in welche die Truppen in Oberschlesien kamen, war äußerst schlecht; alles verwirrt und verwildert. Örtliche Arbeiter- und Garnison-Soldatenräte schwangen das Zepter und hatten die Massen in der Hand. Je größer das Geschrei, je toller das Geschimpfe, je wüster das ganze Gebahren, desto größer war der Erfolg. Der Arbeiter- und Soldatenrat von Cosel war besonders übel und sein Führer, dank seiner rednerischen Gewandtheit, ein gefährlicher Volksbetörer, gegen den auch die gemäßigteren Räte des Generalkommandos einen schweren Stand hatten. Wie gern hätte die Führung der Division gleich hier den Hebel angesetzt und diesen Augiasstall mit eisernem Besen gereinigt, aber dazu fehlten leider bei der weiten Verbreitung der Bewegung, der auch die Garnisontruppen völlig unterlagen und die ihren Rückhalt auch in den Volkswehrbataillonen hatte, bei dem gänzlichen Versagen der zivilen und militärischen Behörden sowie der Bürgerschaft und bei der mit rapider Schnelligkeit um sich greifenden Zersetzung der eigenen Divisionstruppen die erforderlichen Machtmittel. Diese politische Beaufsichtigung des militärischen Fachmannes, des Offiziers, hielt man für geboten, weil man ihm misstraute, da seine Weltanschauung anders war als die des neuen Regimes, man witterte daher Nichtbefolgung gegebener Befehle, Sabotage, Verrat usw. Aber ein solches Experiment erschüttert die Autorität und führt zum Ruin jeden Heerwesens. Erst nachdem die Division wieder kampfkräftig geworden und die Verhältnisse in ihren Zusammenhängen voll übersehen wurden, konnte mit Erfolg gehandelt werden. Und tatsächlich hat der Kampf um die Kommandogewalt und gegen die entarteten örtlichen Formationen, sowie der Gesundungsprozess der eigenen Truppen viele Wochen gedauert. Wie bei allen Revolutionen ordinärer Art hatten auch jetzt die trügerischen Phrasen von Brot und Freiheit, von Gleichheit und Brüderlichkeit die Massen begeistert, hier um so leichter als es sich um eine durch lange Kriegsleiden und Entbehrungen moralisch und Physisch zerrüttetes Volk handelte. Man müsste daher zunächst versuchen, mit den bestehenden inneren Verhältnissen sich soweit als möglich abzufinden, um das höhere Ziel, die Abwehr der äußeren Gegner, Polen und Tschechen, nicht auszuschalten. Da die Truppen der Division im Grenzschutzdienst mobil waren, hatten sie mit den örtlichen Räten, die sich z.T. später als schwer vorbestrafte Verbrecher entpuppten, unmittelbar nichts zu tun, abgesehen in wirtschaftlicher Hinsicht in den Garnisonen, da alle örtlichen Behörden vollkommen von ihnen beherrscht wurden. Das Gesamtwohl erforderte noch Zurückhaltung der inneren Auflehnung gegen den Wahnwitz dieses Systems, das ja auch nur von kurzer Dauer sein konnte. Aber diese Zurückhaltung war bitter schwer und kostete den Führern heiße innere Kämpfe. Es war für viele ein großes Opfer, das zu bringen war, aber es half nichts, es musste sein, wenn man einen Wiederaufbau nicht ausschließen wollte. Dass eine Anzahl Offiziere es ablehnten, unter solchen Verhältnissen weiter zu wirken, ist erklärlich. Auch bei mir war der Ekel gegen den stinkenden Hexenkessel, die Verlumptheit dieser Wirtschaft, kaum bezwingbar.

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Aber als oberer Führer war ich der Truppe ein Beispiel schuldig und durfte nicht fahnenflüchtig werden, zumal es sich hier in erster Linie um Dienst gegen äußere Gegen handelte.

Eine Besonders schwere Gefährdung der Schlagkraft der Division entstand nun alsbald dadurch, das jeder Soldatenrat, auch der örtliche, die rechtsgültige Entlassung eines Soldaten aus dem Militärdienst erwirken, zumeist auch direkt verfügen konnte. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich diese Möglichkeit alsbald in der Division. Zwar wurde diese Entlassungsart sofort unterbunden, aber der Drang, so kurz vor Weihnachten nach Hause zu kommen, führte nun dazu, dass die Führer immer eindringlicher von der Mannschaft angegangen wurden, ihre Entlassung herbeizuführen. In geregelten Bahnen wurden daher allmählich Entlassungen in größerem Umfange vorgenommen und entbehrliche Formationen demobilisiert. Die Verminderung der Stärken macht immer wieder Zusammenlegungen von Verbänden nötig. Die sozial gut gemeinte Bestimmung, dass Arbeitslose nicht entlassen werden dürfen, führte dann dazu, dass viele ungeeignete Elemente behalten werden mussten; denn die meisten dachten nicht daran, sich nach Arbeit umzutun. Es war ein sehr schmerzliches, niederdrückendes Gefühl, die noch vor kurzem so stolze Division so zusammenbrechen zu sehen, ihre zahlenmäßige Stärke war nur noch gering und auch der Geist des Restes vielfach unterwühlt. Man hätte verzweifeln müssen, hätte man sich nicht sagen können, dass es nur eine vorübergehende allgemeine Psychose und Suggestion nach einer physischen und moralischen Überspannung der Menschenkräfte sei, dass die Eigenschaften der Tüchtigkeit, Rechtschaffenheit, Tapferkeit und Vaterlandstreue, die in Krieg und Frieden so Großes geleistet, wieder die Oberhand gewinnen müssten, dass unter politisch irregeführtes Volk aus diesem Unglück und diese Schmach lernen und dann verjüngt wieder emporsteigen werde. Nach schwerem inneren Kampf rang ich mich zu der Überzeugung durch, dass es zweckmäßiger sein würde, den bisherigen Rahmen der mir so lieben, jetzt aber stark zerrütteten Division ganz aufzugeben und neue, frische Gebilde an ihre Stelle zu setzen.

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Ich beantrage daher beim Generalkommando VI. Armeekorps die Auflösung der 117. Infanterie – Division und ihren Ersatz durch mit ihr zu bildende Freikorps. Dem Antrage wurde wohl deshalb nicht stattgegeben, weil die anderen Felddivisionen alsdann den, wie geschildert, zweifelhaften bisherigen Bestand der 117. Infanterie – Division aufnehmen mussten. Diese Divisionen hatten daran aber selbst reichlichen Überfluss. Später freilich entstand dann aus der Posensche 9. Inf. Div. auf diese Weise das Freiwilligenkorps Schlesien. Anstatt der Auflösung wurde die Division am 10 Dezember 1918 als Grenzschutz – Division vorderer Linie im schwierigsten Abschnitt, dem Industriebezirk, eingesetzt. Da der Soldat bei vaterländischer Not auch gegen seine Überzeugung gehorchen muss, befolgte ich dem Befehl. Der Division war nunmehr der Schutz Oberschlesiens östlich der Oderlinie von Oderberg bis Krappitz dann über Groß Strehlitz bis Woischnik, also eine Grenzlinie von etwa 150 kmn einem riesigen, besonders wertvollen Innenbezirk übertragen; Stabsquartier: Gleiwitz.

Es bestand jetzt kein Zweifel mehr, dass die neuen Tätigkeit der Division eine lange, höchst bedeutungsvolle und aller Wahrscheinlichkeit nach eine recht schwierige sein würde. Dass die Tätigkeit des Divisionsstabes in Gleiwitz aber über 14 Monate dauern, dass er sich von 7 auf etwa 40 Offiziere und Beamte vergrößern sollte und dass unter seinem Kommando ein großer Teile der militärischen Formationen des neuen Reiches in Oberschlesien Dienst tun würde, das konnte man damals nicht voraussehen 1).

Der alte Stab aus dem Kriege war böse zusammengeschmolzen; mühsam musste er neu gebildet, dauernd ausgebaut werden. Offiziere kamen und gingen, teils weis sie einen neuen Beruf ergriffen, teils weil ihnen die neue Tätigkeit nicht lag. Sie alle haben Gutes in schwieriger, verantwortungsvoller Tätigkeit geleistet, kaum einer war darunter, der sich nicht voll und ganz in den dienst der Sache gestellt und persönliches Wohlergehen zurückgestellt hätte. Für Anhänger des Achtstundentages war im Divisionsstatbe kein Platz, nicht nur der Tag, sondern häufig zum guten Teil auch die Nacht gehörten ganz der Arbeit. Leuchtendes Beispiel war ihnen der erste Generalstabsoffizier der Division, Hauptmann Gall, der trotz schwerer Schicksalsschläge in seiner Familie von Anfang bis zum Schluss mit außerordentlicher Umsicht und zäher Energie den wichtigen Dienst des Stabes durch alle Wirrnisse hindurch in unermüdlicher großzügiger Weise geleitet hat. Er begriff die Zeit wie sie nun einmal war.

1) Übersicht der Truppen, die in der Zeit von Dezember 1918 bis Februar 1920 unter dem Befehl der 117. Inf. Div., späteren Kleinen Reichswehrbrigade Nr. 32 (117. Inf- Div.) gestanden haben, siehe die Anlagen 1 – 3.

Quellmaterial:

https://sbc.org.pl/de/dlibra/publication/228480/edition/215944/oberschlesien-in-der-aufstandszeit-1918-1921-erinnerungen-und-dokumente-hoefer-karl-1862

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