Vertreibung: Recht gegen Recht, Unrecht gegen Unrecht?

Schriftenreihe der Apostolischen Visitatur Breslau
Herausgegeben vom Apostolischen Visitator für die Priester und Gläubigen aus dem Erzbistum Breslau
Prälat Winfried König, 48143 Münster


VORWORT DES VORSITZENDEN DER DEUTSCHEN BISCHOFSKONFERENZ KARL LEHMANN

Mit dem historischen Briefwechsel 1965 haben sich polnische und deutsche Bischofe die Hand zur Versöhnung gereicht, Die förmliche Bekundung der polnischen Bischöfe, Vergebung zu gewähren und um Vergebung zu bitten, und die gleichlautende Erwiderung ihrer deutschen Mitbrüder machten den Weg zum Dialog frei, der jahrelang blockiert gewesen war. Die polnischen Bischöfe schrieben dazu in ihrem Brief: ..Wenn echter guter Wille besteht – und das ist wohl nicht zu bezweifeln -, dann muß ja ein ernster Dialog gelingen und mit der Zeit gute Früchte bringen – trotz allem, trotz heißer Eisen.“ Die tiefgreifenden Veränderungen, die sich 1989 in Polen und in Deutschland vollzogen, gaben dem seit 1965 mit wachsender Intensität geführten Gespräch eine neue Dimension. Von außen auferlegte Beschränkungen fielen fort, der Weg zu einem rückhaltlos offenen, brüderlichen Gespräch über die ,,heißen Eisen“ wurde vollends frei. Dazu zählte an erster Stelle die ethische Bewertung der Flucht und Vertreibung der Deutschen aus den Gebieten jenseits von Oder und Neiße und von erzwungener Umsiedlung und Vertreibung schlechthin, eine Frage, die in Europa durch den Balkan-Krieg seit 1991 eine bedrückende Aktualität erhalten hat.

Die bisherige Erfahrung zeigt, daß es noch lãngere Zeit einer geduldigen Fortführung des Dialogs bedarf, um kontroverse Standpunkte einander anzunähern. Dies wurde auch deutlich im innerkirchlichen Gespräch im Zusammenhang mit der Diskussion, die das in dieser Publikation vorgestellte Referat von Professor Dr. Remigius Sobanski (Warschau) entfacht hat.Es wurde am 20, November 1990 bei einem Kolloquium deutscher und polnischer Bischofe in Gnesen als Einführungsvortrag gehalten. In der freimütigen Aussprache, die sich an diesen Vortrag anschloß, wurde von deutscher Seite der Klarheit Anerkennung gezollt, mit der Professor Sobanski die Absicht des Briefes der polnischen Bischöfe von 1965 herausstellte, den Teufelskreis von Haß und Gewalt zu durchbrechen und sich nicht in juristische Erwägungen einzulassen, sondern die Ereignisse ..von der cthischen, menschlichen Seite“ zu sehen. Unbehagen hinterließ dagegen der auf der historisch-juristischen Argumentationsebene versuchte Nachweis, daß die Vertreibung durch das Potsdamer Abkommen angeordnet war und die vőlkerrechtlichen Normen. die die erzwungene Umsiedlung groBer Bevölkerungsteile verurteilen, einem späteren Entwicklungsstadium des Völkerrechts zuzuordnen seien.

Schnell wurde deutlich, daß die damit aufgeworfenen juristischen Fragen von den Bischöfen allein nicht gelöst werden konnten. Um ihre Behandlung auch zugunsten einer fruchtbaren Fortführung des innerkirchlichen Gesprächs zu objektivieren und auf eine fachwissenschaftliche Ebene zu rücken, entschloß sich die Deutsche Bischofskonferenz, einen international anerkannten Völkerrechtler um ein Gutachten zu den Argumenten von Professor Sobanski zu bitten. Dieses von Professor Dr. Otto Kimminich (Regensburg) erstellte Gutachten wurde inzwischen den polnischen Bischöfen übermittelt.

Gegenstand und Grenzen des Gutachtens waren vorgegeben. Seine Entstehung, sein Inhalt und seine Gestalt sind aus dem Anlaß und dem fachwissenschaftlichen Charakter der Auseinandersetzung zu verstehen.Es bedient sich einer strikten rechtswissenschaftlichen Argumentation, deren Regeln auch die darin formulierte Kritik gehorcht.Es taugt daher nicht zum Arsenal pauschaler Polemik. Es will keine Analyse des in der heutigen Gesellschaft und Kirche Polens vorhandenen Meinungsbildes geben. Beabsichtigt wird auch nicht ein letztes Wort in einem Dialog, den die Autoren des Briefwechsels von 1965 gewünscht haben und der in der Öffentlichkeit unserer Gesellschaften noch nicht zum Abschluß gekommen ist.

Dabei bleibt immer auch zu bedenken, daß beide hier veröffentlichten Texte ihrerseits Zeugnisse für einen bestimmten Augenblick in der Entwicklung des Verhältnisses zwischen Deutschland und Polen nach der großen Wende des Jahres 1989 sind, der mit seinen Hoffnungen wie Ungewißheiten bereits der Vergangenheit angehört. Zu dem Zeitpunkt, als sich deutsche und polnische Bischöfe im November 1990 in Gnesen trafen, waren die beiden Teile Deutschlands zwar seit wenigen Wochen wieder vereint. Doch war der die deutsch-polnische Grenze endgültig anerkennende Vertrag zwischen beiden

Ländern erst unterzeichnet, jedoch noch nicht ratifiziert. Über der Inhalt des ihn begleitenden Nachbarschafts- und Freundschaftsvertrags, der erst am 17. Juni 1991 abgeschlossen wurde, wurden zu jener Zeit in der Öffentlichkeit beider Länder noch intensive Diskussionen geführt. Manche der damaligen Unentschiedenheiten wirkten sich wenigstens indirekt auf das Gespräch unter den Bischöfen aus.

Seither hat das Nachbarschaftsverhältnis zwischen Polen und Deutschen manche Festigung erfahren. Das alltägliche Zusammenleben hat sich auf weiten Strecken normalisiert. Die Begegnung der Menschen, insbesondere der Jugend, hat trotz aller noch vorhandenen Schwierigkeiten eine Breite erreicht, die wir noch vor einiger Jahren nicht für möglich halten konnten. Dies gilt vor allem für die vielfaltigen Kontakte zwischen den Katholiken in beiden Ländern. In der geduldigen, Schritt für Schritt vorangehenden Ausgestaltung einer versohnten Nachbarschaft in Europa liegt die beste Gewähr dafür, daß auch die uns heute noch schmerzende Unvollkommenheit vieler Antworten auf drängende Fragen immer mehr durch die Liebe zur Wahrhaftigkeit und die Offenheit für das Schicksal des anderen abgelöst wird.

Referat und Gutachten sind jeweils eine Momentaufnahme aus einem umfassenden Dialog.Es ist schon ein Fortschritt, daß über die Frage der Vertreibung offen gesprochen wird. In solchen schwieriger Fragen zählt jeder einzelne Schritt.Es hat darum sicher einen guten Sinn, wenn wir beide Texte öffentlich zugänglich machen. Vielleicht hilft uns dies, in absehbarer Zukunft weitere Schritte nach vorne gehen zu können.

Mainz/Bonn, den 10. April 1995
Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz


6. ZUSAMMENFASSUNG

Im folgenden werden die Ergebnisse der Untersuchung der einzelnen von Prof. Sobanski getroffenen völkerrechtliche Aussagen in der Reihenfolge seines Referats – die auch der gutachtlichen Stellungnahme zugrundeliegt – schlagwortartig wiedergegeben.

a) Im Potsdamer Abkommen haben die Alliierten die Vertreibung der Deutschen aus den Oder-Neiße-Gebieten nicht angeordnet. Die Protokolle der Potsdamer Konferenz beweisen zudem eindeutig, daß die westlichen Alliierten die bereits durchgeführten Vertreibungsmaßnahmen mißbilligten.

b) Der „Aussiedlungsplan“ des Alliierten Kontrollrats vom 20.11.1945 ist kein Rechtsakt zum Vollzug des Potsdamer Abkommens, sondern der Versuch der westlichen Besatzungsmächte. die aus den Oder-Neiße-Gebieten und der Tschechoslowakei vertriebenen Deutschen in ihre Besatzungszonen aufzunehmen. Er betrifft ausschließlich die technische Abwicklung, d.h. den Empfang der Aussiedlungstransporte und deren Weiterleitung an vorher festgelegte Bestimmungsorte, an denen die erste Versorgung der Vertriebenen durchgefüihrt werden konnte. Die veröffentlichten diplomatischen Aktenstücke lassen erkennen, daß die Alliierten über die bei der Vertreibung der Deutschen verübten Greueltaten entsetzt waren und das Bestreben hatten, die noch in den Vertreibungsgebieten verbliebenen Deutschen durch die Aufnahme in die westlichen Besatzungszonen vor einem schlimmeren Schicksal zu bewahren.

c) Die Umsiedlung von Polen aus den durch den ,,Lubliner Vertrag* an die Sowjetunion gefallenen polnischen Gebiete (die Polen 1921 der Sowjetunion aufgrund eines gewonnenen Aggressionskrieges abgenommen hatte, obwohl sie überwiegend von Weißrussen und Ukrainern bewohnt waren) hat bei den Beratungen in Potsdam keine Rolle gespielt. Das polnisch-sowjetische Abkommen sah einen gegenseitigen Bevölkerungsaustausch vor, bei dem allerdings mehr Polen aus der Sowjetunion als sowjetische Bürger aus Polen umgesiedelt wurden. Hierüber wurde jedoch in Potsdam nur insoweit gesprochen, als Churchill verlangte, Polen dürfe nicht mehr deutsches Land erhalten, als es zur Unterbringung der aus der Sowjetunion stammenden Polen benötige. Diesem Verlangen wurde bei der Festlegung der Oder-Neiße-Linie nicht Rechnung getragen.

d) Das Potsdamer Abkommen ist kein Umsiedlungsvertrag. Schon aus diesem Grunde geht der Hinweis auf den griechisch-türkischen Umsiedlungsvertrag von 1923 ins Leere. Hinzu kommt, daß jener Vertrag in der Völkerrechtswissenschaft durchweg negativ beurteilt worden ist.

e) Umsiedlungsverträge sind nur dann völkerrechtlich gültig, wenn sie es der freien Entscheidung des einzelnen von dem konkreten Umsiedlungsvertrag Betroffenen überlassen, ob er an der Umsiedlungsaktion teilnehmen will oder nicht. Zwangsumsiedlungsverträge sind nach dem bereits 1945 (und vorher) geltenden Völkerrecht unzulässig.

f) Die während des Zweiten Weltkriegs insbesondere von dem emigrierten tschechoslowakischen Staatspräsident Edvard Benes entwickelten Vertreibungspläne haben zu keiner Zeit die förmliche Billigung der westlichen Alliierten erhalten. Zwar erreichte es Benes. daß im Mai 1943 zunächst Roosevelt (unter Hinweis auf eine angebliche Billigung Stalins) informell seine Zustimmung zu einem Bevölkerungstransfer L dessen Ausmaß, Art und zeitliche Abwicklung völlig unbestimmt blieb erklärte, während er im Juni 1943 (unter Hinweis auf eine angebliche Zustimmung Roosevelts) Stalin die Zustimmung zur Vertreibung abrang. Aber die diplomatischer Akten des U.S. State Departements wie des britischen Foreign Office zeigen, daß die westlichen Allierten bis zur Potsdamer Konferenz im Sommer 1945 bestrebt waren, das Ausmaß der Umsiedlungen auf ein Minimum zu beschränken, die Aussiedlung möglichst lange hinauszuzögern und über einen möglichst langen Zeitraum zu erstrekken und sie insgesamt unter internationaler Kontrolle in humaner Weise durchführen zu lassen. Nur auf diesem Hintergrund ist Art. XIII des Potsdamer Abkommens zu verstehen. Jedoch ist keines dieser Ziele erreicht worden.

g) Von einem auf der Konferenz von Jalta erklärten Einverständnis der Alliierten zur Vertreibung (Umsiedlung, Aussiedlung) der Deutschen aus den Oder-Neiße-Gebieten kann keine Rede sein.

h) Das Argument, die Oder-Neiße-Gebiete seien bereits bei der Besetzung durch die sowjetischen Truppen menschenleer gewesen ist von Stalin auf der Potsdamer Konferenz vorgetragen und von den westlichen Alliierten zurückgewiesen worden.Es entsprach nicht den Tatsachen. Hervorzuheben ist, daß die westlichen Staatsmänner bei dieser Gelegenheit auch darauf hinwiesen, daß die Flucht der deutschen Bevölkerung aus den Kriegsgebieten keineswegs die Abtrennung dieser Gebiete und die Vertreibung der Restbevölkerung bzw. das Verbot der Rückkehr der Geflohenen rechtfertige.

i) Die Aussagen Prof. Sobanskis zum Völkerrecht enthalten folgenschwere Irrtümer. An erster Stelle steht die These von der ,,Geschichtlichkeit des Rechts“, hinter der sich letztlich die Kapitulation des Rechts vor der Gewalt verbirgt, Sie zeigen aber auch die Unsicherheit des Autors und seine Furcht vor den Normen des Völkerrechts.

k) Die These, daß das Vertreibungsverbot sich erst nach 1945 entwickelt habe, ist falsch. Das Verbot der Massenausweisung von Fremden ist bereits im 19. Jahrhundert formuliert worden. Die Ausweisung eigener Staatsangehöriger ist dem Völkerrecht immer fremd gewesen

|) Vertreibungsverbot und Recht auf die Heimat sind nicht identisch. Das Recht auf die Heimat ist in der Völkerrechtswissenschaft vor 1945 nicht behandelt worden, weil es problemlos war. Das klassische Völkerrecht ging von dem untrennbaren Zusammenhang zwischen Volk und Gebiet aus. Niemals ist ein Gebiet ohne die darauf lebende Bevölkerung erworben worden. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts -seitdem sich der Begriff der Staatsangehörigkeit durchgesetzt hat -gilt der Grundsatz, daß der gebietserwerbende Staat den von dem Gebietswechsel betroffenen Menschen seine Staatsangehörigkeit anbieten,ihnen aber auch das Recht der Option für die Beibehaltung der alten Staatsangehörigkeit einrãumen muß. Unter diesen Voraussetzungen konnte das Recht auf die Heimat nicht problematisch werden. Nach den Vertreibungsmaßnahmen von 1945/46 haben sich Völkerrechtler aus vielen Ländern damit beschäftigt und sind zu dem Ergebnis gekommen, daß das Recht auf die Heimat als .,zusammengesetztes Recht“ zu den Grundlagen der Völkerrechtsordnung der gesamten Neuzeit gehört hat. Angesichts der Ereignisse nach 1945 wird seine Kodifizierung gefordert. Die Widerstände dagegen behindern die Fortentwicklung des Völkerrechts unter dem Zeichen der Menschenrechte.

m) Das Recht auf die Heimat bedroht die mittlerweile in den Oder-Neiße-Gebieten ansässig gewordenen Polen nicht. Sie sind durch das allgemeine Gewaltverbot und das auch zu ihren Gunsten anzuwendende Vertreibungsverbot wirksam geschützt. Zwar darf die Situation nicht als Konkurrenz zweier Heimatrechte gedeutet werden. Das Recht auf die Heimat steht nach wie vor denjenigen zu, die es vor der Vertreibung besessen haben.Es kann weder durch bloßen Zeitablauf noch durch einen Gebietsabtretungsvertrag vernichtet werden. Aber das Völkerrecht bietet Möglichkeiten, die aus dieser Situation entstehenden Probleme ohne Preisgabe menschenrechtlicher Grundprinzipien zu lösen. Der deutsch-polnische Vertrag vom 17. Juni 1991 enthält mit seinen Bestimmungen über den gegenseitigen Minderheitenschutz (Art. 20-22) Ansätze für die Lösung der menschenrechtlichen Probleme im Geiste der künftigen Völkerrechtsentwicklung, wie sie auch der dem Europäischen Parlament vorliegende Entwurf einer Europäischen Volksgruppencharta anvisiert. Das Ziel ist eine Integration Europas, die es den Menschen ermöglicht, im vereinten Europa Heimat zu behalten. (Vgl. auch den Diskussionsbeitrag der Kommission I des Zentralkomitees der deutschen Katholiken vom 14. November 1990, „Zur Zukunft der europäischen Integration“, S. 7 f.) Eine solche zukunftweisende und friedenschaffende Entwicklung ist aber nur möglich, wenn das Unrecht der Vertreibung als solches anerkannt wird. In der Völkerrechtswissenschaft sind alle Versuche, die Vertreibung zu rechtfertigen. gescheitert. Der Vorwurf Prof. Sobanskis, das Völkerrecht halte mit dem „ethischen und humanitären Empfinden nicht Schritt“, ist nicht gerechtfertigt.


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