Ursachen des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts stand Europa auf dem Höhepunkt seiner eigenen politischen Karriere und bildete das politische und wirtschaftliche Zentrum der Welt. Zwei aufeinander folgende Weltkriege haben es dieser privilegierten Stellung beraubt. Die Frage, wer die Schuld am Ausbruch der ersten großen Katastrophe unseres Jahrhunderts, des Krieges von 1914, trägt, ist bis heute nicht abschließend beantwortet, obwohl bis heute unzählige Bücher über die Ursachen der europäischen Konflikte des 20. Jahrhunderts geschrieben wurden. Die meisten von ihnen stellen die Umstände, die zum Krieg führten, nach wie vor gemäß den Vorgaben des Versailler Schuldspruchs dar und weisen die Verantwortung für die Verschlechterung der internationalen Atmosphäre und den Ausbruch des bewaffneten Konflikts Deutschland zu, ungeachtet der Beredsamkeit und Bedeutung der zahlreichen Fakten, die die Rolle anderer Staaten offenbaren. Die unablässige Verbreitung dieser Position, die den Siegern der beiden Weltkriege gelegen kommt und durch eine parteiische Auswahl von Fakten und sogar durch die unkritische Übernahme von Slogans, die aus der Kriegspropaganda stammen, gekennzeichnet ist, behindert eine informierte Debatte. Die polnischen Geschichtsbücher sind von diesem Geist der antideutschen Propaganda durchdrungen, der die Grundlage des polnischen Weltbildes bildet. Um sich ein einigermaßen objektives Bild von der politischen Entwicklung Europas im 19. und 20. Jahrhundert zu machen, muss man sich zunächst vom Einfluss der vielen Vorurteile und des Aberglaubens befreien, die uns von den „Schöpfern der Geschichte“ aufgezwungen wurden. Eine neue, kritische und objektive Analyse aller Umstände, die zum Ersten Weltkrieg geführt haben, und jener „Wahrheiten“, die die Sieger willkürlich in den Inhalt des Versailler Vertrages geschrieben haben, wird uns vor Augen führen, wie tief die allgegenwärtige einseitige Geschichtsinterpretation in unser Bewusstsein eingedrungen ist. Dies ist die Grundlage für die weit verbreitete Überzeugung, dass die Versailler Beschlüsse richtig waren, und die daraus resultierende Zustimmung zu den radikalen Veränderungen der politischen Realitäten in Europa. Die Schuldigen müssen bestraft werden, was sie akzeptieren müssen, ohne sich dem Gebot der Gerechtigkeit zu widersetzen. Die Schuldfrage am Ausbruch des Krieges zu den eigenen Gunsten zu lösen, bedeutet also, sich die moralische Autorität anzueignen, den Nachkriegsverlauf der Geschichte zu gestalten. Die Kritik an den Versailler Beschlüssen wurde auch deshalb unterdrückt, weil sie das nach 1919 geschaffene europäische System der internationalen Beziehungen in seinen Grundfesten erschütterten und den Prozess der inneren Zersetzung solcher künstlichen Staatsgebilde wie Jugoslawien und die Tschechoslowakei unterstützten. Sie wies ferner darauf hin, dass die neuen Grenzen Polens, der Tschechoslowakei, Italiens, Frankreichs, Jugoslawiens, Ungarns oder Rumäniens im Widerspruch zu den Anforderungen des geltenden Völkerrechts stünden. Obwohl das Selbstbestimmungsrecht der Völker gepredigt wurde, beruhten die in Versailles getroffenen Grenzentscheidungen nicht auf den Ergebnissen der Abstimmung, und im Falle Oberschlesiens wurde nicht einmal der in der Volksabstimmung zum Ausdruck gebrachte Wille der Mehrheit seiner Bewohner befolgt. In diesem Sinne war es nicht der Krieg selbst, sondern die Bestimmungen des Versailler Vertrags, die zu starken Spannungen in den internationalen Beziehungen führten bzw. diese aufrechterhielten. Diese Spannungen zeigen sich insbesondere darin, dass die Alliierten 1919 die Wiedervereinigung Österreichs mit Deutschland untersagten, obwohl dies in einer Resolution des österreichischen Parlaments gefordert wurde. Der Grundsatz der Selbstbestimmung der Völker wurde auch 1919 verletzt, als sich die Sudetendeutschen weigerten, Gebiete mit überwiegend deutscher Bevölkerung in das Deutsche Reich einzugliedern, als Südtirol von Österreich abgetrennt wurde und als Elsass-Lothringen an Frankreich angegliedert wurde, ohne dass eine Volksabstimmung durchgeführt wurde, wie es der damalige Präsident der USA nachdrücklich gefordert hatte. Die künstliche Teilung Oberschlesiens, die Überlassung des pommerschen Korridors, der Ostpreußen vom übrigen Deutschland trennt, an Polen ohne Abstimmung und die Verleihung des Status einer freien Stadt an die zu 95 % von Deutschen bewohnte Stadt Danzig trugen zumindest indirekt ebenfalls zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs bei. Die jüngste friedliche Teilung der Tschechoslowakei und der verlustreiche Balkankrieg beweisen, dass der Versailler Vertrag auch heute noch eine destabilisierende Wirkung auf die politische Situation in Europa hat und damit die Chancen für eine wirtschaftliche Entwicklung einschränkt. Die Hauptgründe für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs waren die bestehenden wirtschaftlichen Spannungen, das Aufkommen nationalistischer Gefühle in ganz Europa, die Rivalität zwischen den großen Machtblöcken und ein allgemeiner Mangel an internationalem Vertrauen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatte der Wirtschaftsimperialismus an Stärke gewonnen und nahm immer ausgeprägtere Formen eines übersteigerten nationalen Egoismus an. Die großen europäischen Staaten strebten danach, ihre eigene wirtschaftliche Macht weiter auszubauen. Der erbitterte Wettbewerb um Märkte und andere gegensätzliche Interessen führte zu einem Konflikt, der außer Kontrolle geriet. Die europäische Diplomatie verstrickte sich zunehmend in ein sicherheitspolitisches Geflecht von Bündnissen, das die Wahrscheinlichkeit eines Krieges nur noch erhöhte, da das Sicherheitssystem jeden Staat automatisch in einen Konflikt hineinzog, selbst wenn die Partner nur ihre eigenen Interessen verfolgten.
Oft hört man die Behauptung, der Erste Weltkrieg sei das Ergebnis eines Zusammenstoßes zwischen den „freiheitlich agierenden“ demokratischen Staaten und den „reaktionären Kräften“ des Deutschen Reiches und Österreich-Ungarns. Dies ist mit dem Hinweis auf das Bündnis Frankreichs und Englands mit dem despotischen Russland zu widerlegen. Deutschland und Österreich-Ungarn hatten zumindest zu Beginn des Krieges keine Ambitionen, neue Gebiete zu erobern, sondern zumindest einige der Alliierten handelten nach eindeutig imperialen Zielen. Auch die Länder der westlichen Demokratien waren nicht frei von autoritären politischen Kräften, wie sie die zentralistische, aggressive und konservative Macht des britischen Empires repräsentierte. Einer der Vertreter dieser politischen Linie war Winston Churchill, dessen Wirken heute in England anders bewertet wird als noch vor kurzem (Buch von John Charmley: „Churchill – Das Ende einer Legende“). Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es zwei verhängnisvolle und für den Frieden besonders gefährliche Rivalitäten: zwischen Großbritannien und Deutschland sowie zwischen Österreich-Ungarn und den Balkanstaaten. Außerdem sprach man damals in Frankreich und Deutschland von gegenseitiger „Erbfeindschaft“. Die französische Politik war bereits seit der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert von einer stark antideutschen Haltung geprägt, deren Hauptziel die Aufrechterhaltung der deutschen Teilung in kleine und schwache Länder war. Um dem Aufstieg Deutschlands entgegenzuwirken, suchte Frankreich Verbündete zunächst in Polen und später in Russland. Zwischen 1871 und 1914 stieg das Deutsche Reich zum stärksten Staat in Europa auf. Die Absicht Deutschlands, eine große Flotte zu bauen, bedrohte die englische Hegemonie auf den Meeren, was zur Stärkung der anglo-französischen Partnerschaft beitrug. Das Bündnis Frankreichs mit Russland, das durch Großbritannien und die USA weiter gestärkt wurde, spielte daher eine entscheidende Rolle, um den weiteren Aufstieg Deutschlands zu stoppen.
Die folgende Zusammenfassung des Aufsatzes von Walter Post stellt die heute weniger bekannten Umstände dar, die zum Ersten Weltkrieg führten, und beschreibt Versuche, die Frage der Verantwortung für seinen Ausbruch zu revidieren. W. Post beleuchtet das komplexe Thema der Schuldfrage aus einer anderen Perspektive als üblich.
80 Jahre nach der Erschießung des österreichischen Thronfolgers in Sarajewo sind die Gründe, die zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs führten, immer noch umstritten. Dabei gerät heute in Vergessenheit, dass sich bereits zu Beginn der 1920er Jahre eine internationale Gruppe von Revisionisten unter den Historikern gebildet hatte, die dokumentierten, dass die im Versailler Vertrag festgeschriebene Alleinschuld Deutschlands und Österreich-Ungarns am Kriegsausbruch nicht der historischen Wahrheit entsprach. Diese Historiker machten Serbien, Russland und Frankreich für die Hauptverantwortung am Ausbruch des Krieges verantwortlich. Neben deutschen und französischen Historikern bestand diese Gruppe hauptsächlich aus zwei amerikanischen Professoren, Harry Elmer Barnes und Sidney Bradshaw Fay. Ihre 1926 und 1928 erschienenen Bücher gehören bis heute zu den besten, die sich mit den Ursachen des Kriegsausbruchs von 1914 befassen. Diese revisionistische Geschichtsdarstellung wird selbst von ihren Gegnern als zuverlässig angesehen. Ihre Autoren stützten sich bei der Rekonstruktion der Ereignisse auf zahlreiche deutsche, österreichische, russische und britische Dokumente, die in den 1920er Jahren veröffentlicht wurden, und berücksichtigten dabei konsequent die Politik aller beteiligten Staaten. In der Zwischenkriegszeit stießen die Revisionisten auf große Resonanz in der internationalen Öffentlichkeit, die sich nach 1945 schlagartig änderte und keine Versuche mehr zuließ, die bestehende Geschichtsdeutung zugunsten Deutschlands zu revidieren. Anfang der 1960er Jahre vertrat der deutsche Historiker Fritz Fischer in seinen Werken die These von der deutschen Hauptverantwortung für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs. In der Atmosphäre der unerbittlichen deutschen Vergangenheitsbewältigung nach 1945 und der Politik der Umerziehung Deutschlands fanden seine Thesen großen Widerhall in der Öffentlichkeit, obwohl die Grundsatzfrage bei ihrer Formulierung nicht berücksichtigt wurde: Fischer und seine Jünger konzentrierten sich in ihren Untersuchungen ausschließlich auf die Erklärung der Rolle Deutschlands und zogen daraus vorverurteilende Schlüsse, ohne die Politik der anderen beteiligten Staaten in die Analyse einzubeziehen. Die Ergebnisse zahlreicher anderer Studien, die in der Zwischenzeit durchgeführt wurden, widersprechen der Gültigkeit von Fischers Ansichten. Trotzdem haben bis heute nur wenige Historiker die Thesen der revisionistischen Historiker der 1920er und 1930er Jahre in ihre Arbeit aufgenommen.
In den letzten 30 Jahren des 19. Jahrhunderts wurde das europäische System der internationalen Beziehungen von 5 Mächten kontrolliert: England, Frankreich, Deutschland, Österreich-Ungarn und Russland. Ab 1890 bildeten sich zwei gleichberechtigte Blöcke von Mächten heraus: Frankreich mit Russland und Deutschland mit Österreich-Ungarn. England nahm zunächst eine neutrale Position ein. Gleichzeitig bildete sich ein Weltstaatensystem heraus, in dem das britische Empire, das zaristische Russland, die USA und in geringerem Maße das französische Kolonialreich eine entscheidende Rolle spielten. Diese Staaten waren die eigentlichen Weltmächte. Das englische Außenministerium war überzeugt, dass der weitere Aufstieg der USA und Russlands nicht aufzuhalten war. Die tatsächliche Machtbasis des britischen Imperiums war zu schwach, als dass Großbritannien dies hätte verhindern können. In Asien gab es gegensätzliche Interessen zwischen England und Russland: in Persien, China und an der Nordgrenze Indiens. Im englischen Außenministerium befürchtete man, dass England seinen Einfluss in Indien verlieren würde, wenn es Russland gelänge, die Eisenbahnlinie bis zur indischen Grenze fertigzustellen und damit die russischen Truppen in den Grenzgebieten zu Indien zu verstärken. Gegensätzliche koloniale Interessen herrschten auch zwischen England und Frankreich. In den deutsch-englischen Beziehungen kam es ab 1890 zu stärkeren Spannungen, die ihren Ursprung im raschen Wachstum der deutschen Wirtschaft und ihrer zunehmenden Wettbewerbsfähigkeit auf den Weltmärkten hatten. Dieses Konfliktpotenzial wurde ab 1900 durch den deutsch-englischen Wettbewerb im Schiffbau weiter verschärft. In London bemühte man sich um ein langfristiges Abkommen mit Frankreich und Russland, um die Vorherrschaft in Indien zu sichern. 1904 ging Paris ein Verteidigungsverhältnis mit London ein, das sich gegen Deutschland richtete. Die französischen Revanchisten wollten sich nicht mit der deutschen Vorherrschaft auf dem europäischen Kontinent abfinden und betrachteten die Rückgliederung von Elsass-Lothringen an Frankreich nur als Vorwand. In den folgenden Jahren versucht Paris, England in das französisch-russische System einzubinden. Russland, das sich von seiner Niederlage im Krieg mit Japan (1905) und den revolutionären Unruhen erholt hatte, verfolgte expansive Ziele gegen die Türkei (Dardanellenstraße) und wurde auf dem Balkan von panslawistischen Ideen angetrieben. Diese Ziele Russlands bedrohten unmittelbar die Existenz Österreich-Ungarns, dessen einziger zuverlässiger Verbündeter das Deutsche Reich war. Am Petersburger Hof gab es eine einflussreiche Gruppe um den Großfürsten Nikolai Nikolajewitsch, die einen Krieg anstrebte. Ein Sieg sollte die Bedrohung durch neue revolutionäre Unruhen abschwächen. Russland vertraute auf seine eigene militärische Stärke. Die französische Regierung unter der Führung von Präsident Poincare vertraute ebenfalls auf die Stärke Frankreichs und Russlands, die es ihr im Falle eines Beitritts Englands erlauben würde, das Risiko eines Krieges einzugehen. Österreich-Ungarn sah in den serbischen Einigungsbestrebungen eine direkte Bedrohung für die Existenz des eigenen Staates. Die Wiener Regierung war geneigt, dem entgegenzuwirken, d.h. das österreichische Prestige durch einen Strafkrieg gegen Serbien zu verbessern. Deutschland sollte dabei die Aufgabe übernehmen, sich gegen die russische Bedrohung zu schützen. Die deutsch-britischen Beziehungen verbesserten sich ab 1912 mit der Vereinbarung, den weiteren Ausbau der Flotte zu begrenzen. In der Zwischenzeit hatte sich England, vermittelt durch Frankreich, auch Russland angenähert. Der russische Außenminister übte Druck auf den englischen Außenminister Grey aus, um die Unterzeichnung des Bündnisses herbeizuführen.
Der britische Außenminister war jedoch aufgrund der Stimmung innerhalb der britischen Regierung und aus Angst vor der Reaktion der englischen Öffentlichkeit nicht in der Lage, diesen Wunsch Russlands zu unterstützen. Der geänderte russische Vorschlag, der von der Londoner Regierung akzeptiert wurde, enthielt eine Seekonvention. Diese Konvention sah für den Kriegsfall vor, dass die britische Marine die deutsche Marine vernichtet, dass britische Seestreitkräfte in die Ostsee eindringen, dass russische Truppen in Pommern landen und auf Berlin marschieren sollten. Der damalige Reichskanzler von Deutschland wurde jedoch (durch den Sekretär der russischen Botschaft in London, Sibert) ausführlich über den Verlauf dieser Verhandlungen informiert. Die deutsche Führung erkannte, dass sich ihre Befürchtungen hinsichtlich einer Einkreisung Deutschlands allmählich bestätigten und Deutschland einer sehr starken Gegenkoalition gegenüberstand. Die russische Rüstungspolitik verstärkte die Gefahr, dass sich Deutschland nach 1917 in einer militärischen ausweglosen Situation befinden würde. Die Reichskanzlei Bethmann-Hollweg wollte die Koalition gegen Deutschland auf diplomatischem Wege brechen oder einen Präventivkrieg führen. Am 28. Juni 1914 verübten serbische Terroristen ein Attentat auf den österreichischen Thronfolger. Der Chef des österreichischen Generalstabs sah darin eine gute Gelegenheit, einen Strafkrieg gegen Serbien zu führen. Die durch dieses Attentat ausgelöste Junikrise sollte den deutschen Kanonier dazu nutzen, Grey die Gefahr des britischen Bündnisses mit Frankreich und Russland vor Augen zu führen und so einen Bruch der entstehenden Dreierkoalition herbeizuführen. Der britische Außenminister ist jedoch entschlossen, den Ausbruch eines Krieges zu riskieren, da London davon überzeugt ist, dass die britisch-russische Freundschaft für die Rettung des englischen Reiches unerlässlich ist. Paris und St. Petersburg waren im Vertrauen auf die englische Unterstützung ihres Bündnisses zum Krieg bereit. Die Ankündigung der russischen Generalmobilmachung setzte den Mechanismus der verbündeten Systeme in Gang und bedeutete, dass der Ausbruch eines großen Krieges nicht mehr unvermeidlich war.
Die obige Zusammenfassung des Aufsatzes von Walter Post unterstreicht die Bedeutung dessen, was heute zunehmend zum Gegenstand historischer Forschung wird, nämlich die Verlagerung von der detaillierten Analyse einzelner historischer Phänomene hin zu einem direkten und gleichberechtigten Vergleich der vorherrschenden politischen Atmosphäre, der Intentionen des Handelns und der Bedeutung der Entscheidungen, die von den jeweils beteiligten Parteien getroffen wurden. Ferdinand Otto Miksche kommt in seinem Buch Das Ende der Gegenwart zu folgender Einschätzung: „Die Umstände, die 1914 zum Krieg führten, waren vielschichtig, und es ist nicht möglich, einfach diese oder jene Großmacht für den Kriegsausbruch verantwortlich zu machen. Alle europäischen Mächte waren in ähnlichem und schwer zu enträtselndem Maße für den Ausbruch des Krieges verantwortlich, und die deutsche Schuld war nicht größer als die der anderen. Die Schuld am Ausbruch des Krieges lag bei allen: den Regierungen und ihren Politikern, den Generalstäben und schließlich auch bei allen von der Kriegspsychose stimulierten Nationen. Um den Frieden zu sichern, d.h. die Interessen des eigenen Volkes zu wahren, wurde ein Bündnissystem über Europa gespannt, das einem Minenfeld glich. Die Explosion der einen Mine musste die Explosion anderer Minen nach sich ziehen. Die bis heute kursierende Behauptung, die mitteleuropäischen Mächte (also Deutschland und Österreich-Ungarn) seien schuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs, ist eine historische Lüge. Es waren nämlich die Alliierten, vor allem die übereilte Mobilisierung Russlands und die Eifersucht Englands auf die positive Entwicklung des deutschen Staates, die dazu führten, dass sich der zunächst nur lokale österreichisch-serbische Konflikt zu einem weltweiten Flächenbrand ausweitete. Frankreich, das in den letzten Jahren die Elsass-Lothringen-Affäre vergessen hatte und sich eher in Afrika engagierte, wurde tatsächlich in diesen Krieg hineingezogen.“ Der Kriegsausbruch von 1914 hat viele Facetten, eine kohärente und eindeutige Schuldzuweisung ist unmöglich. Unbestritten ist jedoch, dass die Frage der Verantwortung für den Ausbruch des Krieges, die die Versailler Konferenz einseitig Deutschland zuschrieb, ohne diese strittige Frage einer neutralen Kommission vorzulegen, wesentlich zur Vergiftung der politischen Beziehungen in Europa und zumindest indirekt zum Aufstieg Hitlers beigetragen hat.
Bruno Nieszporek (1994)
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