Ethnische Gegebenheiten in Oberschlesien
Der freie Austausch von Meinungen und Ideen ist ein Gut von besonderer Bedeutung. Eine offene Diskussion ist für die Korrektur des Bildes Schlesiens in der polnischen Publizistik von vorrangiger Bedeutung, gibt Schlesien das zurück, was Schlesien gehört, und trägt zur Verbesserung der polnisch-deutschen Beziehungen bei. Anhand des Beispiels Oberschlesiens, einer Region mit einer für Grenzgebiete typischen reichen Kultur, fand am 8. und 9. Mai 1990 in Oppeln ein historisches Symposium statt, auf dem die Funktion dieser Region im Prozess der Gestaltung der zukünftigen Zusammenarbeit zwischen Polen und Deutschland diskutiert wurde. In den von der Evangelischen Akademie Mülheim/Ruhr herausgegebenen Unterlagen mit dem Titel „Oberschlesien als Brücke zwischen Polen und Deutschen“ (Górny Śląsk pomostem pomiędzy Polakami a Niemcami) wurden unter anderem die auf diesem Symposium gehaltenen Vorträge veröffentlicht, in denen die kulturellen, sozialen und ethnischen Strukturen Oberschlesiens aus der Sicht polnischer und deutscher Historiker skizziert wurden. Die gemeinsame Veröffentlichung der Arbeiten von Historikern beider Länder ermöglicht einen direkten Vergleich der vorgestellten Einschätzungen zu vielen kontroversen Themen und erleichtert so die Bildung einer eigenen Meinung zu lange tabuisierten Fragen. Einige der auf dem Symposium vorgetragenen Meinungen, die hier in Auszügen wiedergegeben werden, verdeutlichen die Lücken und Unklarheiten, die sich in beiden Ländern aufgrund des langjährigen Stillstands in den wissenschaftlichen Kontakten zwischen Vertretern beider Länder festgesetzt haben. Die negativen Auswirkungen dieser den Schlesiern aufgezwungenen Einschränkung der persönlichen Kontakte und des Einfrierens der wissenschaftlichen Beziehungen zu Deutschland sind heute in Schlesien deutlich zu spüren, einer Region, deren reiche Geschichte trotz langjähriger Bemühungen nicht auf eine einzige Nation oder eine einzige Kirche reduziert werden kann. Die folgenden Ausführungen sind rückübersetzt ins Deutsch.
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Über die historische Funktion Oberschlesiens und seine ethnischen Gegebenheiten äußerte sich Wiesław Lesiuk, polnischer Historiker aus Oppeln. Nach einer kurzen Einführung in das Thema stellte W. Lesiuk fest, dass „Oberschlesien über 600 Jahre lang von Polen getrennt war. Dadurch war diese Region unvergleichlich stärker benachteiligt als andere Gebiete Polens.“ Damit offenbarte W. Lesiuk gleich zu Beginn seines Vortrags eine altbekannte, scheinbar längst überholte Methode der ‚wissenschaftlichen‘ Arbeit, die nicht auf objektiver Analyse beruht, sondern auf der Schürung von Emotionen im Stil von ‚wir waren immer besser!‘. Ich zitiere einige weitere Formulierungen von Dr. Lesiuk, der weiter feststellt, dass noch im 17. Jahrhundert die polnisch-deutsche ethnische Grenze entlang der Linie Wrocław – Brzeg – Falkenberg verlief. Der polnische Teil (die Bevölkerung) in Oberschlesien erwies sich als beständig und unterlag keinen Veränderungen. Oberschlesien war kein Teilungsgebiet Preußens, litt jedoch ebenso unter dessen Schicksal wie die polnischen Gebiete, die von Preußen annektiert wurden und die preußischen Ostprovinzen bildeten. Der Prozess der Abspaltung der polnischen Bevölkerung Oberschlesiens von der polnischen Gemeinschaft, der durch die jahrhundertelange Trennung von Polen begünstigt wurde, wurde dadurch erleichtert, dass in der Klassenstruktur des polnischen Elements eine polnische Aristokratie, ein polnischer Adel, ein polnisches Bürgertum und eine polnische Intelligenz fehlten. Der Widerstand gegen die penetranten Tendenzen zur Eingliederung des polnischen Elements in den deutschen Kulturraum zeigte sich nicht immer bewusst, wurde aber durch die entschlossene Fortführung der eigenen Traditionen unterstützt. Während des Völkerfrühlings entstand in Oberschlesien eine polnische Gruppierung, die den Widerstand gegen die Germanisierung verstärkte. Während im Jahr 1840 der Anteil der ethnisch polnischen Bevölkerung in Schlesien 63 % betrug, sank er laut Volkszählung von 1861 und 1910 von 59,1 % auf 57,3 %. Im Jahr 1913 verlief die polnisch-deutsche ethnische Grenze entlang der Linie Groß Warthenberg – Oppeln/Opole – XXX – Oberglogau/Głogówek – Racibórz/Rattibor. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und der Wiedergeburt des freien polnischen Staates kam es in Oberschlesien zu verstärkten nationalen Auseinandersetzungen. Neben anderen Optionen zur Regelung der nationalen Frage entstanden in Oberschlesien starke separatistische oder autonome Tendenzen. Einer der wichtigsten Indikatoren für die ethnische Zugehörigkeit ist die Sprache, obwohl in polnischen Arbeiten in letzter Zeit darauf hingewiesen wird, dass sprachliche Beziehungen für die Beurteilung der ethnischen Zugehörigkeit nicht ausreichen. Sie müssen durch ein subjektives Gefühl der ethnischen Zugehörigkeit ergänzt werden. Die Volkszählung von 1910 gilt in der polnischen Geschichtsschreibung als relativ objektiv. Als Kriterium wurde die verwendete Sprache herangezogen. So wurden beispielsweise im Verwaltungsgebiet Oppeln (Erläuterung: d. h. in Oberschlesien) 1.169.340 Personen als polnischsprachig eingestuft, 884.045 gaben an, Deutsch zu sprechen, 57.347 Tschechisch, 7.752 andere Sprachen und 88.798 gehörten einer zweisprachigen polnisch-deutschen Gruppe an. Die polnische Geschichtsschreibung hält die künstliche Herausbildung einer zweisprachigen Gruppe für nicht gerechtfertigt und ordnet deren Mitglieder der polnischen Gruppe zu. Somit umfasste die polnische Gruppe insgesamt 1.258.136 Personen, d. h. 57,3 % der Gesamtbevölkerung in diesem Gebiet. In ländlichen Gebieten sprachen sich 66,8 % für die Zugehörigkeit zur polnischen Sprache aus, in Städten 71,8 % für die deutsche Sprache. Unter Berücksichtigung dieser Faktoren schätzen die polnischen Demografen A. Dudiński und E. Romer, dass kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs der Anteil der polnischen Bevölkerung im Oppelner Gebiet 63 bis 65 % betrug. Das nationale Bewusstsein der polnischen Volksgruppe in Oberschlesien zeigte sich in unterschiedlichem Maße. Der Anteil der Bevölkerung, die sich subjektiv als polnisch empfand, nahm seit der Völkerfrühling und vor allem seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zu. Bei der Volksabstimmung im Jahr 1921 stimmten bekanntlich 59,6 % für Deutschland. Nach Ansicht von Lesiuk spiegelten die Ergebnisse der Volksabstimmung aus vielen Gründen nicht die tatsächlichen ethnischen Verhältnisse in Oberschlesien wider, wurden jedoch entgegen Artikel 88 des Versailler Vertrags ausgelegt, was sich nachteilig für Polen auswirkte. Nach der Teilung Oberschlesiens in den Jahren 1921-1922 wanderten etwa 20.000, im Jahr 1923 weitere 60.000 Polen aus den an Deutschland zugesprochenen Gebieten in polnische Gebiete aus, was durch den antipolnischen Terror im westlichen Teil des Plebiszitgebiets verursacht wurde. Gleichzeitig verließen bis zum 1.7.1922 auch 100.000 Deutsche die Polen zugeteilten Gebiete, bis 1925 verließen weitere 117.000 deutsche Optanten den östlichen Teil Oberschlesiens.
Soweit einige Ausführungen von Dr. W. Lesiuk. Persönlich kann ich mich der Forderung, die gesamte zweisprachige Bevölkerung Schlesiens ohne weitere Analyse der ethnischen Gruppe der Polen zuzuordnen, nicht besonders anschließen. Schon die Ergebnisse der schlesischen Volksabstimmung widerlegen eine solche polnisch-nationale Reduktion der schlesischen Realität hinreichend.
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Der Vortrag von Dr. W. Lesiuk wurde von Professor Georg Strobel, einem deutschen Einwohner des zwischenkriegszeitlichen Lodz (Łódź), einer kritischen Analyse unterzogen.
Strobel betonte, dass
- es von Anfang an nicht klar ist, warum Begriffe wie „polnischsprachig“ und „polnisch“ als gleichwertig verwendet werden, um die politische Zugehörigkeit eines Teils der oberschlesischen Bevölkerung zu bestimmen, und dass sie ständig miteinander verwechselt werden. Im Hinblick auf eine Verbesserung der Objektivität künftiger Interpretationen sollte besonders auf die strikte Einhaltung der verwendeten Terminologie geachtet werden. In polnischen historischen Vereinigungen sind Fälle bekannt, wie z. B. die polnischsprachigen Lemken, die eine Gleichsetzung mit Polen entschieden ablehnen. Daher sollte zunächst gefragt werden, ob eine ähnliche Differenzierung nicht auch für die Oberschlesier gelten sollte, anstatt sich sofort einseitig für eine der Möglichkeiten zu entscheiden. Weiterhin sollte definiert werden, was unter tschechisch-mährischer Bevölkerung zu verstehen ist. Die polnische Soziologie und Geschichtsschreibung führt auch dadurch zu vielen Unklarheiten, dass sie die Nationalität der Zuwanderer aus Böhmen und Mähren nicht genau bestimmt und sie als tschechische Bevölkerung identifiziert, ohne zu berücksichtigen, inwieweit es sich dabei um deutsche Bevölkerung handelte. Eine bewusste Differenzierung der dargestellten Probleme ist erforderlich. Auch das Problem der Fälschung statistischer Daten, zu denen auch die polnischen Volkszählungen vor 1939 und nach 1945 gehören, muss genauer untersucht werden.
- Es ist auf die politischen Ergebnisse hinzuweisen, zu denen die Logik führt, das heutige Verständnis des Begriffs „Nation“ bis ins 10. Jahrhundert zurückzuverfolgen, aus dem die ethnische Entwicklung in Oberschlesien abgeleitet wird, was wiederum dazu diente, die Übernahme dieser Gebiete nach 1945 zu legitimieren. Diese Instrumentalisierung von Argumenten ist gleichbedeutend mit dem Vorwurf des Revisionismus gegenüber der nach 1945 aus diesen Gebieten vertriebenen Bevölkerung, nur mit dem wesentlichen Unterschied, dass der polnische Revisionismus inzwischen von Erfolg gekrönt war. Wenn man unter Revanche die Verwirklichung des Revisionismus versteht, dann war genau das nach 1945 in Polen der Fall.
- Das Anführen schlechter Löhne und Lebensbedingungen der Bevölkerung bei der Darstellung ethnischer Probleme in Schlesien führt zu falschen Schlussfolgerungen. Die beschriebenen Bedingungen waren zwar so schlecht, wie sie dargestellt wurden, aber sie wurden dadurch begünstigt, dass die polnischsprachige Schicht der Bauern und Arbeiter zahlenmäßig stark war. Außerdem kam nach 1922 zum deutschen Kapital in Ostoberschlesien polnisches Kapital hinzu, und 48 % des Industrievermögens und der Handelsanteile gehörten belgischem, französischem und amerikanischem Kapital. Wirtschaftliche Überlegungen dürfen nicht unter ethnischen Gesichtspunkten angestellt werden, da sie in diesem Fall nur Vorurteile aufrechterhalten und den Blick auf die ähnlichen Lebensbedingungen der entsprechenden deutschen Bevölkerungsschicht verstellen, was jedoch nicht erwähnt wurde. Urteile über die nationale, wirtschaftliche und soziale Entwicklung sind in Bezug auf die polnisch-deutschen Verhältnisse des 19. Jahrhunderts mit besonderer Vorsicht zu formulieren. So erreichte beispielsweise die Provinz Posen trotz der Germanisierungspolitik ein viel höheres industrielles und soziales Entwicklungsniveau als die Grenzgebiete des Kongresspolens, was sogar heute noch zu beobachten ist.
- Die besondere Bedeutung, die dem nationalen Bewusstsein der polnischen Volksgruppe im 19. Jahrhundert beigemessen wird, ist im Vergleich zu den damaligen Empfindungen übertrieben. Bis in die 80er Jahre des 19. Jahrhunderts war dieses Bewusstsein, wenn überhaupt vorhanden, nur schwach verbreitet, was auf Konservativismus und einen niedrigen Entwicklungsstand zurückzuführen war. Erst das Erscheinen der ersten (in Bezug auf Sprache und Inhalt einfachen) polnischsprachigen Presse im Jahr 1869, die aus Westpreußen kam, leitete die Bildung einer polnischsprachigen Gruppe ein. Deutliche polnisch-nationale Schritte, die mit der Person Korfantego verbunden sind, wurden erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts unternommen. In diesem gesamten Prozess der Erweckung des polnischen Bewusstseins spielte die Provinz Posen eine besondere Rolle. Von dort kamen führende polnische Aktivisten und Journalisten nach Oberschlesien, um die nationale Rückständigkeit der Region zu überwinden. Dies allein zeugt bereits von einer unterentwickelten polnisch-nationalen Ausrichtung in Oberschlesien im Vergleich zur Provinz Posen, was jedoch von polnischer Seite verschleiert wird. Der Kulturkampf wurde nicht aus ethnischen oder nationalpolitischen Gründen begonnen. Sein Verlauf führte zur Vereinigung der Katholiken aller ethnischen Gruppen. Von großer Bedeutung für die Herausbildung des polnischen Nationalbewusstseins war der Zustrom von Saisonarbeitern aus Kongresspolen und Galizien, die sich angesichts besserer Lohn- und Lebensbedingungen dauerhaft in Oberschlesien niederließen, hier Familien gründeten und damit das polnische Element stärkten.
- Die nationale Durchmischung in Oberschlesien besteht bis heute, trotz Vertreibung, Abwanderung und Ansiedlung neuer polnischer Bevölkerung. Diese Situation ist typisch für Grenzgebiete und geht einher mit der Entwicklung eines regionalen Patriotismus, der in den Jahren 1918-1939 in Ostoberschlesien zur politischen Autonomie innerhalb des polnischen Staates führte. Diese Autonomie respektierte die kulturelle Eigenständigkeit der Deutschen in diesen Gebieten. Die Deutschen hatten das Recht, sich in deutschen Parteien und Organisationen zu organisieren, trotz der feindseligen Konfrontationspolitik des damaligen polnischen Woiwoden Grażyński. Im Falle der oberschlesischen Gemeinschaft könnte man nach den amerikanischen Soziologen Barnes und Ogburn angesichts der vielfältigen sozialen Phänomene das Problem der nationalen Zugehörigkeit als nationalen Dualismus betrachten.
- Zur politischen Instrumentalisierung ethnischer Probleme gehören vor allem die Autonomiebewegung und die Haltung der kommunistischen Bewegung gegenüber den ethnischen Beziehungen in Oberschlesien. Die Abspaltungsbewegung entstand nach der Veröffentlichung des Slogans „Śląsk Ślązakom“ (Schlesien den Schlesiern) in der Zeitung „Kurier Górnośląski“ in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts, der weniger Ausdruck polnischer nationalistischer Strömungen war, sondern sich auf die Stärkung des wirtschaftlichen und sozialen Regionalismus bezog. Nach der Teilung Oberschlesiens behinderte und störte der Separatismus die Integration Ostoberschlesiens in den neu entstandenen polnischen Staat. Die separatistische Bewegung nach 1918 hatte ihren Ursprung in der unklaren innenpolitischen Lage Deutschlands und Polens. Polen war in den Jahren 1919-20 in einen Krieg mit der Ukraine und der Sowjetunion verwickelt, seine soziale Lage zu Beginn der Staatlichkeit war schlecht. Ein separater oberlausitzischer Staat, der ethnische Unterschiede ignorierte, schien eine würdige Möglichkeit zu sein, um aus der bestehenden Unsicherheit herauszukommen. Dieser Umstand wirft erneut ein neues Licht auf das Problem des schlesischen nationalen Dualismus. Solche Vorstellungen wurden von den Kommunisten verbreitet, ungeachtet der bestehenden spezifischen Merkmale und ethnischen Unterschiede. Die kommunistische Bewegung leugnete die Existenz einer eigenständigen ethnischen Gruppe in Oberschlesien und betonte die deutschen Merkmale dieser Bevölkerung. Damals wurde auch die Einrichtung sowjetischer Räte in Oberschlesien propagiert. Unter dem Motto „Oberschlesien den Schlesiern“ wurde das Selbstbestimmungsrecht der Völker in Verbindung mit „unserer nationalen und kulturellen Eigenart“ geltend gemacht, das durch die Erlangung der politischen Unabhängigkeit garantiert werden sollte. In der Programmerklärung des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Polens (KPKP) von Ende August 1930 wurde verkündet, dass „die Kommunistische Partei Polens für das Selbstbestimmungsrecht einschließlich der Abtrennung Oberschlesiens und der deutsch besiedelten Gebiete von Polen“ eintrete.
Prof. G. Strobel betonte weiter, dass die erste zu diskutierende Frage die Suche nach einer Antwort auf die Frage sei, welches Gebiet als Oberschlesien bezeichnet werde. Werden geografische Bezeichnungen nach nationalen Gesichtspunkten unter Berücksichtigung nationaler Interessen gebildet? Allein die Suche nach einer Antwort auf diese Frage kann zu einer langen Debatte führen. Dabei würden sicherlich Unterschiede in der nationalen Interpretation und historischen Bewertung zutage treten. Dies würde auch für territoriale Ansprüche und die Rechtfertigung der Eroberung von Gebieten gelten. Es ist übertrieben und wissenschaftlich völlig unlogisch, dass zur Rechtfertigung von Ansprüchen bis ins 10. Jahrhundert zurückgegriffen wird. Zu welchen Konsequenzen würde die Anerkennung historischer Ansprüche führen, wenn man die Ausdehnung des Heiligen Römischen Reiches oder die jahrhundertelange arabische Herrschaft auf der Iberischen Halbinsel sowie die vom Osmanischen Reich eroberten Gebiete berücksichtigt? So kann man doch nicht im Namen der Gerechtigkeit, der Gleichberechtigung und des friedlichen Zusammenlebens argumentieren. Die Berufung auf solche historischen Erwägungen ist auch aus folgenden Gründen nicht akzeptabel:
- Im 10. Jahrhundert gab es noch keine Begriffe, die heute in historischen Abhandlungen verwendet werden.
- In Schlesien siedelten sich keine polnischen Stämme an, sondern westslawische Stammesgruppen wie beispielsweise die Schlesier (und nicht die Polanen). In Polen werden alle slawischen Stämme allgemein mit Polen identifiziert, obwohl dies allein durch die Existenz der Sorben, Tschechen oder Slowaken, die ebenfalls westslawische Stämme sind, absurd wird.
- Überlegungen in nationaler Hinsicht gibt es erst seit dem 19. Jahrhundert. Zuvor waren sie überhaupt nicht bekannt.
In polnischen Schulen wird bis heute die Liebe zum Vaterland, Heldentum und der Slogan „Für unsere und eure Freiheit“ verbreitet. Polen versteht sich als vorbildliches Land in Bezug auf Toleranz, worauf die ganze Nation stolz ist, was in bestimmten historischen Perioden auch der Fall war, was aber angesichts der gesamten Geschichte nicht gesagt werden kann, insbesondere in Bezug auf die polnische Politik gegenüber Oberschlesien und der Ukraine.
In Polen ist die Meinung verbreitet, Schlesien sei ein altpolnisches Land. Aber man muss nur einen Blick auf die Karte Europas aus verschiedenen historischen Epochen werfen, um die Sinnlosigkeit solcher Meinungen zu erkennen. Voraussetzung für die Vermeidung von Verwirrung und einen offenen Blick auf die historischen Fakten ist die Bereitschaft, die reine historische Wahrheit und die historischen Unterschiede zu suchen und anzunehmen, die auf einem breiten Allgemeinwissen in Verbindung mit historisch-philosophischem, logischem und klarem Denken beruhen sollten.
Die Modernisierungspolitik Preußens und Deutschlands führte unabhängig von den Versuchen der Germanisierung oder des „Kulturkampfs“ zur Entstehung spezifischer sozialer und psychopolitischer Denkweisen, Verhaltensweisen und Wertvorstellungen, unabhängig von der empfundenen ethnischen Zugehörigkeit der Bevölkerung Oberschlesiens. In wirtschaftlicher Hinsicht, in der Einstellung zur Arbeit, den Lebensbedingungen und den Sitten unterschied sich die Gesellschaft Oberschlesiens diametral von der feudalistisch organisierten polnischen Gesellschaft, in der die Organisation der Arbeit in Fabriken und im Handel nicht-nationalen Vertretern wie Deutschen und Juden überlassen wurde. Die regionale Besonderheit Ostoberschlesiens in Bezug auf Wertvorstellungen, Verhaltensweisen und Arbeitsethik erschwerte zudem die Eingliederung dieses Teils Oberschlesiens in das unabhängige Polen nach 1918 sowie dessen Eroberung nach 1945. Zu den Begriffen, die in diesem Gebiet fremd und unverständlich waren die für die polnische Kultur charakteristisch sind, gehören der polnische Romantizismus, Messianismus, Heldentum und Martyrium, die das Bild der polnischen Geschichte dominieren, sowie eine andere Lebenskultur. In den Nachkriegsjahren wurden die Oberschlesier diskriminiert, sie wurden im Prozess der Annäherung Polens an die westeuropäische Kultur nicht berücksichtigt.
Bereits Ende Februar 1945 skizzierte Gomułka die strategischen Ziele der polnischen Politik: die Eingliederung der deutschen Ostgebiete und den Hass auf Deutschland. Noch im Februar 1945 legte Gomułka die künftige Propagandalinie fest, die den deutschen Revisionismus und die Revanchepolitik, zu der es, wie Gomułka noch während des Krieges betonte, kommen werde, aufzeigen und bekämpfen sollte. In diesem Sinne leitete Aleksander Zawadzki, eine Figur mit unklarem Profil, die Politik der Polonisierung der Oberschlesier ein. Um die dabei angewandte Gewalt und Brutalität zu rechtfertigen, musste zumindest mit Hilfe von Zahlen eine historische These über die altpolnische Prägung dieser Gebiete konstruiert werden, und die Bevölkerung Oberschlesiens wurde dazu gezwungen, sich für Polen zu erklären. Trotzdem behielten viele Oberschlesier ihre freundliche Haltung gegenüber Deutschland bei, wenn auch nicht ihre Verbundenheit mit der deutschen Kultur oder ihr deutsches Nationalbewusstsein. Die gesamte Gewalt, Erniedrigung, Zwangsmaßnahmen und Diskriminierung trafen nicht nur die deutschen Oberschlesier, sondern auch diejenigen, die sich als Polen betrachteten, und sogar diejenigen, die während des Dritten Reiches in polnischen Organisationen aktiv waren und dafür verfolgt wurden, sowie diejenigen, die in den Schlesischen Aufständen auf polnischer Seite gekämpft hatten. All dies macht die besondere Tragödie der Oberschlesier aus. Dabei ist es wichtig zu betonen, dass die Schlesischen Aufstände für die Oberschlesier ein Bruderkrieg waren, der innerhalb der eigenen Familien ausgetragen wurde und so die nationale Spaltung der Oberschlesier verdeutlichte. Eine Familie, zwei Nationalitäten – so ist es bis heute geblieben. Dieser Bruderkrieg war kein Kampf zwischen den Oberschlesiern, sondern ein Krieg derer, die ihn aus politischen Interessen angezettelt und für ihre Zwecke instrumentalisiert haben. Auf diese Weise wurden die Menschen in Oberschlesien schwer missbraucht: auf polnischer Seite durch Freiwilligenverbände aus Lemberg, Posen, Lodz, Krakau, aber auch aus anderen Teilen Polens. Auf deutscher Seite durch einen Freiwilligenkorps, der angesichts der Entmilitarisierung des Plebiszitgebiets und des Rückzugs der deutschen Behörden und Machtorgane die Antwort der schutzlosen Bevölkerung auf die polnischen Bewaffnungsbestrebungen war. Die gebürtigen Oberschlesier waren in keiner der beiden militärischen Parteien in der Mehrheit vertreten, sondern waren eher auf polnischer Seite zahlreicher, wo sie aus den polnisch-schlesischen Grenzgebieten rekrutiert wurden.
Die vergangenen Ereignisse und die damaligen Verhältnisse sollten so dargestellt werden, wie sie tatsächlich stattgefunden haben, und es sollte nicht versucht werden, neue Mythen zu schaffen und sie so darzustellen, wie man sie heute gerne sehen würde. Die Geschichte sollte nicht nach heutigen politischen Maßstäben zurechtgeschnitten werden, was für alle beteiligten Seiten gilt. Entgegengesetzte Haltungen und Urteile sind weder ehrlich noch bringen sie denen, die sie vertreten, Anerkennung oder Respekt ein. Bemerkenswert ist dabei, dass die Äußerungen der polnischen Seite zu Oberschlesien nicht durch versteckte politische Einflüsse eingeschränkt sind, sondern freie Meinungsäußerungen darstellen. So schreibt beispielsweise die polnischsprachige Pariser Emigrantenzeitschrift „Kultura“ im April 1990 in einem Artikel von Bienasz über die Instrumentalisierung der Interessen der Oberschlesier nach 1945: „Bei objektiver Betrachtung ist Bismarcks Kulturkampf nichts im Vergleich zur Polonisierung nach 1945.“ Die bereits erwähnte Überprüfungsaktion in Oberschlesien, deren Aufgabe es war, aus Deutschen Polen zu machen, beendete nicht die Zeit der Gesetzlosigkeit für die Oberschlesier und die Gewalt, die ihnen angetan wurde und von der sie glaubten, dass sie ihnen erspart bleiben würde, wenn sie sich auf die Seite der Polen stellten. Nicht nur die schrecklichsten Gesetzlosigkeiten und Verbrechen wie z. B. Massenerschießungen der männlichen Bevölkerung im heutigen Stadtteil Miechowice in Bytom, bei denen eigentlich Kinder und alte Menschen erschossen wurden, die Deportation arbeitsfähiger Männer und Frauen nicht nur nach Zentralpolen, sondern insbesondere in die Sowjetunion, von wo nur wenige zurückkehrten, dazu Zwangsarbeitslager, Gefängnisse in Oberschlesien, die ganze Willkür und Gewalt gegenüber den Vertriebenen und den in Oberschlesien verbliebenen Menschen in den letzten Monaten des Krieges und den ersten Monaten der Nachkriegszeit. Lange vor der Potsdamer Konferenz wurden diese Gebiete von Polen als Eigentum betrachtet, als Kriegsbeute – davon zeugt Bieruts Hinweis vom August 1945 über die Entschädigung für die an die UdSSR verlorenen polnischen Ostgebiete. Bei diesen Übergriffen fragte niemand, ob sich die Betroffenen eher als Polen oder als Deutsche fühlten. Das interessierte weder die polnischen noch die sowjetischen Behörden und Vertreter der Macht. Alle, die hier lebten, wurden fast gleich behandelt und pauschal als feindliche Deutsche eingestuft. Die Vertreibung und die Internierung in Zwangsarbeitslagern erfolgten ohne Unterscheidung der Nationalität und noch vor den Potsdamer Beschlüssen über die künftige Zugehörigkeit dieser Gebiete. Erst mit der Zeit wurde erkannt, dass Oberschlesien keine Entschädigung für die Ostgebiete darstellt, sondern „altpolnisches Gebiet“ und damit „bis zur Oder und Neiße einschließlich Stettin zurückgewonnene Gebiete“ ist, die wieder unter polnische Verwaltung gestellt wurden.
Mit der Enteignung und Vertreibung kamen aus Mittelpolen Wagenkolonnen in diese Gebiete, um Kriegsbeute zu machen. Aus dieser Zeit stammen Begriffe wie „Raubzug“, „Szaber“, „Szmalcowanie“ (Schmelzabgabe) aus dem Wortschatz dieser Gebiete. Ehemalige Konzentrations- und Kriegsgefangenenlager füllten sich erneut, diesmal mit Oberschlesiern, wiederum ohne Rücksicht auf die nationale Zugehörigkeit. Zu diesen Lagern gehören unter anderem Lamsdorf-Lambinowice und Auschwitz-Oświęcim, dessen Geschichte erst Anfang der 1950er Jahre abgeschlossen wurde. Aus Gründen der symbolischen Erinnerung an die Verbrechen des deutschen Nationalsozialismus wurde dies verschwiegen und ist daher fast völlig unbekannt. In ihrem eigenen Land werden die Oberschlesier bis heute diskriminiert, in Behörden und Gerichten wegen ihrer Sprache verspottet und ausgegrenzt, in ihrer Bildung benachteiligt. Die Oberschlesier wurden in ihrer Heimat als Menschen zweiter Klasse behandelt, auch wenn sie sich als Polen fühlten oder sich nur als solche ausgaben. Im Gegensatz dazu war die polnische Zuwanderung aus Mittel- oder Ostpolen eine Bevölkerung erster Klasse – reine Polen, die sich hier als Herren fühlten.
All dies und noch viel mehr Leid, Unrecht und Verleumdung verbirgt sich hinter den Zahlen, die W. Lesiuk in ihrer ganzen numerischen Unschuld abstrakt vor uns verbreitet hat. Die Zahlen verdecken das Schicksal von Menschen, von denen – wie hier und heute – nach den erlittenen Ungerechtigkeiten erwartet wird, dass sie sich sofort am Aufbau von Brücken der Versöhnung beteiligen. Können sie diese endlose politische Manipulation und ihr erlittenes Schicksal so einfach vergessen und sich heute positiv engagieren? Wir müssen uns fragen, ob man diesmal – wenn auch in guter Absicht – wieder zu viel von ihnen erwartet, ohne ihnen überhaupt zuzuhören, weil man wieder einmal besser weiß als die direkt Betroffenen, was für sie besser ist.
In persönlichen und politischen Beziehungen ist es angesichts solcher Erwartungen und Fragen besonders bemerkenswert, dass gerade die Oberschlesier, die einst eine Tendenz zur polnischen Seite zeigten, angesichts vielfältiger diskriminierender und schändlicher Taten heute längst vergessene Elemente der deutschen Kultur wiederentdecken. Obwohl in den Familien teilweise negative Erfahrungen aus der preußischen Zeit weitergegeben wurden, finden sie heute wieder eine Anziehungskraft in Deutschland. Aus ihrer Enttäuschung über Polen, das sie anders erwartet und vorgestellt hatten, bekennen sie sich in ihrem nationalen Dualismus wieder zu den einst verachteten Deutschen. Nach 1945 ändern sie ihre zwangsweise polonisierten Vor- und Nachnamen wieder in die deutsche Form zurück und bringen damit ihren Protest und ihre Fremdheit zum Ausdruck, auch wenn sie dem slawischen Dialekt angehörten. Viele von ihnen bekennen sich heute zu ihrer deutschen Identität, da sie Deutsche geblieben sind und sich nur aufgrund ihrer sozialen Verhältnisse oder der Überprüfung gezwungen sahen, sich für die polnische Seite zu entscheiden. In dem endlich entstandenen polnischen Einheitsstaat, den alle polnischen Nationalkräfte seit Jahrhunderten erwartet hatten – darunter auch die katholische Kirche, die sich als „polnische Kirche“ versteht und im Volksmund auch so genannt wird –, gibt es schließlich keinen Platz für nationale Minderheiten.
Über diese für Opfer und Täter erniedrigenden, schändlichen Ereignisse kann man in letzter Zeit auch in der polnischen Presse lesen, selbstkritisch, überzeugend und anklagend, wie z. B. aus der Feder von Maria Szmeja im „Tygodnik Powszechny“ (1.4.1990) und nicht nur in Zeitschriften der Landsmannschaften.
Die Artikel in den Landsmannschaftszeitungen sind bei weitem nicht so kritisch und anklagend, werden aber dennoch in der polnischen Öffentlichkeit nach wie vor als Verleumdungen und polenfeindlich, als revanchistisch und revisionistisch angesehen, wie bereits im Februar 1945 ohne dass dafür eine Grundlage bestand und die darauf abzielten, politische Ansprüche zu legitimieren. Diese polnische Kritik – in guter Absicht, aber ohne genaue Kenntnis der Sachlage – wird in Deutschland weit verbreitet und als eigene deutsche Selbstkritik in Form einer „kritischen Kontrolle reifer Bürger“ übernommen. Die Zeiten ändern sich jedoch, und es ist zu erwarten, dass solche auf Sand gebauten Urteile und vorübergehenden Überzeugungen der Wahrheit weichen werden. Wir haben die Pflicht, zu schützen und nicht zu belehren, und wir haben die Pflicht, unsere Denkweise gegenüber denen zu ändern, die in Oberschlesien jahrelang ein schweres Schicksal erlitten haben und die sich durch lokalen Patriotismus, lokale Traditionen und nationalen Dualismus auszeichnen, was in Polen unbekannt ist und daher fremd und verdächtig erscheint. Das bedeutet auch, den Oberschlesiern ihre Würde und ihr Vertrauen zurückzugeben. All dies bedeutet vor allem, den Oberschlesiern zu erlauben, Oberschlesier zu bleiben, was sie immer waren, bevor sie für deutsche und polnische Zwecke instrumentalisiert wurden. Angesichts der leidvollen Erfahrungen der Nachkriegszeit sollte es niemanden überraschen, wenn sich viele von ihnen – aufgrund ihres nationalen Dualismus – für ihren deutschen Kern entscheiden. Historischer Groll ist kein guter Ratgeber, und Intoleranz gegenüber einem Teil der eigenen Bevölkerung zeugt von Schwäche und der Unfähigkeit, gemeinsame Werte zu nutzen – genau das ist der große historische Fehler Polens gegenüber den Oberschlesiern und ihrer Bevölkerung. „Wenn Polen in Europa sein will, muss es anfangen, Toleranz zu lernen“, mahnt Bienasz in diesem Zusammenhang seine Landsleute.
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Ebenfalls interessant war der Vortrag von Danuta Berlinska aus Oppeln, der während des Seminars unter dem Titel „Soziale Strukturen in Oberschlesien“ gehalten wurde. Im Folgenden werden einige Auszüge aus dem Vortrag von D. Berlinska aus dem Deutschen übersetzt, die – ohne weiterer Kommentare – andere Elemente des sozialen Hintergrunds und der historischen Gegebenheiten Oberschlesiens gut skizzieren:
Berlinska sagte, dass die Schlesier eine ethnische Gemeinschaft bilden, die ein starkes Gefühl der Eigenständigkeit bewahrt hat. Sie verbindet eine besonders emotionale Beziehung zu ihrem Lebensraum. Diese Eigenständigkeit rührt von einem stark ausgeprägten, konkreten und fast greifbaren Identitätsgefühl her und spiegelt sich in Traditionen, Sprache, Bräuchen, Wertvorstellungen, Religion und Festen wider. Dieses Identitätsgefühl hat sich in den wechselvollen Geschichtsschicksalen bestätigt. Als Bewohner einer Grenzregion bilden die Schlesier eine Gemeinschaft am Rande, an der Peripherie. Dies ist nicht nur im räumlichen, sondern auch im sozialen Sinne zu verstehen.
Im 19. Jahrhundert bildete sich eine kleine schlesische Intelligenzija heraus, die sich stark mit dem Volk verbunden fühlte und sich für die Erhaltung der Eigenständigkeit der Schlesier einsetzte. Dieser Kampf hatte jedoch für die breiten Massen keinen nationalen Charakter.
Der preußische Kulturkampf und die preußische Germanisierungspolitik lösten Widerstand aus und stärkten die Einheit der Schlesier. Andererseits muss man die jahrhundertelange Trennung vom polnischen Volk und die damit verbundene eigenständige gesellschaftliche Entwicklung Schlesiens berücksichtigen. Dadurch konnten trotz der gemeinsamen Herkunft und der kulturellen Nachbarschaft keine Impulse entstehen, die ein Zugehörigkeitsgefühl zum polnischen Volk hervorgerufen hätten. Damit verbunden ist, dass die Schlesier weder Deutsche noch Polen waren, sondern „Einheimische“. Den Schlesiern fehlte ein ausgeprägtes Nationalbewusstsein, weshalb sie sich passiv dem Assimilationsprozess unterwarfen. Aufgrund der fehlenden historischen Verbindungen zu Polen konnten die Schlesier zu dem Zeitpunkt, als sie ihre traditionelle lokale Gemeinschaft verließen und bestimmte Werte der deutschen Kultur, insbesondere die Sprache, übernahmen, nicht mehr als Polen betrachtet werden. Die Übernahme von Werten und Zeichen der polnischen oder deutschen nationalen Kultur führte zum Verlust der Gruppenidentifikation und zum Zusammenbruch des Gemeinschaftsgefühls.
Die deutsche Sprache ist für eine große Zahl von Schlesiern – ebenso wie der schlesische Dialekt – ein wesentlicher Bestandteil ihres kulturellen Erbes. Heute empfinden es die Schlesier als diskriminierend, dass sie keine Möglichkeit haben, Deutsch zu lernen. Deutschkenntnisse sind für traditionelle Arbeitsaufenthalte in Deutschland und für den Kontakt zu Familienangehörigen, die nach dem Krieg in Deutschland geblieben sind oder dorthin gezogen sind, unerlässlich. Ein weiteres grundlegendes Element der soziokulturellen Identität der Schlesier ist ihre starke Verbundenheit mit ihrem Territorium und ihrer lokalen Gemeinschaft. Es gibt kaum Fälle, in denen Schlesier in andere Regionen Polens ziehen.
Die Schlesier bilden eine spezifische ethnische Gruppe, die sich dem Einfluss der polnischen Massenkultur widersetzt hat. Sowohl für die Schlesier selbst als auch für die polnische Einwandererbevölkerung ist klar, dass die Enkel der polnischen Repatriierten nicht als Schlesier betrachtet werden können. Auch die Polen, die nach Schlesien gekommen sind, wollen sich nicht zu den Schlesiern zählen. Dadurch hat sich heute die Distanz zwischen den Schlesiern und den wenigen noch in Oppeln lebenden Deutschen verringert. Sie haben gemeinsam das Leid, das Schicksal, das Unrecht und die Demütigungen durch die Neuankömmlinge aus Polen erlebt. Die polnische Gesellschaft hat den Schlesiern und Deutschen eine ähnliche soziale Stellung zugewiesen, was zur Auslöschung der Unterschiede zwischen ihnen beigetragen hat. Umgekehrt fühlt sich ein großer Teil der nach Schlesien gekommenen polnischen Bevölkerung den Schlesiern fremd und behandelt sie wie Deutsche oder zweifelt an ihrer polnischen Identität.
Die Polnische Kommunistische Partei betonte, dass die Wiedergeburt des polnischen Staates nur durch die Einheit der nationalistischen Struktur möglich sei. Dies verhinderte eine tolerante Haltung der Polen gegenüber sprachlicher oder kultureller Vielfalt, insbesondere wenn es um Germanisierung ging. Die Stalinisierung des öffentlichen Lebens nach 1948 führte zur Auflösung vieler eigener Verwaltungsorganisationen, Vereine, Chöre und der regionalen Presse. Lokale Initiativen wurden unterdrückt. Dies schränkte die Möglichkeiten der Schlesier, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, erheblich ein. Die nur sporadisch vorkommenden Fälle von Vertretung der einheimischen Bevölkerung in der staatlichen Verwaltung wurden beseitigt. Ihre gesellschaftliche Tätigkeit wurde behindert und unmöglich gemacht. Die Schlesier wurden an den Rand des gesellschaftlichen Lebens gedrängt und von der Möglichkeit des sozialen Aufstiegs ausgeschlossen, obwohl sie nicht selten über eine höhere Bildung und bessere berufliche Qualifikationen verfügten.
Etwa 90 % der Schlesier nehmen heute in der polnischen Gesellschaft ähnliche Positionen ein wie zuvor in der deutschen Gesellschaft. Die polnische Einwanderungsbevölkerung hat ein Machtmonopol in den Bereichen Bildung, Industrie und Kultur. Die Schlesier nehmen nicht aktiv am nationalen Leben der polnischen Gesellschaft teil und wollen dies auch nicht. Die Erinnerung an das Unrecht und die Intoleranz in der Nachkriegszeit ist nach wie vor präsent, was zu einer Verhärtung und Isolation als Abwehrreaktion gegen die Demütigung geführt hat. Sie wollen sich nicht assimilieren lassen. Angesichts der Mängel der staatlichen Wirtschaft und der administrativen Aufteilung von Produktionsmitteln, Krediten und Materialien nach dem Prinzip von Privilegien und bürokratischen Vorschriften kam es dazu, dass die erwähnte effiziente deutsche Verwaltung als vorbildlich angesehen wird. Dies hat eine nationale Identifikation mit Polen vollständig verhindert und das Bild der deutschen Vergangenheit verinnerlicht und mythologisiert.
Die deutsche Orientierung wird durch die westdeutsche Gesetzgebung verstärkt, nach der Schlesier deutsche Staatsbürger sind. Nur 40 % der befragten Jugendlichen sind überzeugt, dass sie weiterhin in Schlesien leben wollen. Der Rest sind potenzielle deutsche Auswanderer. Bezeichnenderweise verwenden die Schlesier nicht die kategorische Bezeichnung „Ich bin Deutscher“, sondern eher „Ich bin deutscher Herkunft“. Die schlesische Gesellschaft existiert am Rande der polnischen Nation, ohne Einfluss auf wirtschaftliche und soziale Prozesse. Diese Prozesse werden von einem starken zentralistischen Machtapparat gesteuert. Den Schlesiern wurde die Möglichkeit der politischen Vertretung und der Vertretung ihrer Interessen genommen. Dies führte zu passivem Widerstand gegen diese „Kolonisierung“.
Bruno Nieszporek (1994)
Quelltext: silesiainfo.net/SilesiaArchiv/SlonskDe/Slonsk/Abni/GSOS/UwarunkowaniaEtniczne.htm
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