Gesellschaft und soziales Umfeld
Polnisch-deutsche Analogien und Unterschiede in der gesellschaftlichen Entwicklung
Die ideologische und politische Teilung Europas ist überwunden. Es bleiben jedoch zahlreiche Probleme, mentale Unterschiede, nationale Identitäten und ein oft nationalistisch gepflegtes historisches Gedächtnis. Die jüngste Geschichte hat zu vielen Schuldzuweisungen, Anschuldigungen, Rechtfertigungsversuchen und Vorurteilen geführt. Dennoch besteht heute die Chance, einen neuen deutsch-polnischen Dialog aufzunehmen, ohne Themen zu tabuisieren und ohne politische und ideologische Zwänge zu berücksichtigen. Die Autoren des vorliegenden Buches, die gleichermaßen die polnische wie die deutsche Wissenschaft vertreten, haben sich zum Ziel gesetzt, die gegenseitige Fremdheit zu überwinden und das verschüttete Gemeinschaftsgefühl wiederzubeleben. Dabei wurde versucht, keine Harmonie an Stellen zu erzeugen, an denen sie nicht vorhanden ist. Das Buch soll dabei helfen, sich trotz der bis heute bestehenden sozialen und wirtschaftlichen Unterschiede, die die gutnachbarschaftlichen Beziehungen belasten, ein eigenes Urteil zu bilden.
In der vorliegenden Studie werden Auszüge aus mehreren Beiträgen polnischer und deutscher Autoren zu den sozio-historischen Gegebenheiten beider Länder zitiert. Bevor diese jedoch vorgestellt werden, möchte ich auf ein grundlegendes Problem hinweisen, das sich in den Texten einiger polnischer Autoren durchzieht. Es geht um die Frage, welche Gebiete im Laufe der Jahrhunderte heute als „polnische Gebiete“ bezeichnet werden sollten (können).
So kann man in der Zeit der Existenz eines unabhängigen Königreichs oder Staates Polen die damaligen Gebiete als polnisch betrachten, die damals innerhalb der Grenzen der Macht des Königs oder des Staates lagen, ohne die ethnischen Verhältnisse in dem betreffenden Gebiet zu berücksichtigen. Für Polen verschwand diese Eindeutigkeit bei der Einstufung von Gebieten als „polnisch“ fast zwei Jahrhunderte lang bis 1918 auf. Während der Teilungen Polens, d. h. in einer Zeit ohne polnische Staatlichkeit, kann man nur diejenigen Gebiete als „polnisch“ bezeichnen, die damals mehrheitlich von einer Bevölkerung bewohnt waren, die sich der polnischen Nation zugehörig fühlte. Bemerkenswert ist auch der Versuch, den Begriff „polnische Gebiete“ auf Gebiete auszuweiten, die zwar nicht mehrheitlich von der polnischen Volksgruppe bewohnt waren, aber unter starkem Einfluss oder der Dominanz polnischer nationaler Eliten standen, wie z. B. die sich als polnisch empfindenden Kreise der Aristokratie oder andere Träger der polnischen Kultur.
In Bezug auf die Gebiete Oberschlesiens ist jedoch nicht festzustellen, dass eine dieser Bedingungen zutrifft. Dem steht die etwa 600-jährige Abwesenheit der polnischen Staatsgewalt in Schlesien entgegen, es sei denn, man würde die vollständige Abwesenheit der polnischen Aristokratie in Schlesien und den fast vollständigen Mangel an polnischen kulturellen Einflüssen in Schlesien als Grund dafür anführen, dass dieses Gebiet im historischen Sinne als „polnisches Gebiet“ bezeichnet wird. Die breite Bevölkerung Oberschlesiens (mit Ausnahme der deutschen Bevölkerung), die den schlesischen Dialekt oder Deutsch sprach, hatte bis zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert kein polnisches Nationalbewusstsein. Seit dem 13. Jahrhundert löste sich die schlesische Linie der Piasten von Polen, was mit ihrer freiwilligen Unterwerfung unter den Prozess der Germanisierung einherging. Seit dieser Zeit waren die schlesischen Adelskreise Träger der deutschen Kultur, und wenn jemals in Schlesien eine Kultur oder Sprache aus der slawischen Sprachfamilie verbreitet war, dann war es die tschechische Kultur und Sprache. Die alt-slawische Urbevölkerung Schlesiens, die vom Stamm der Silzen (und nicht der Polanen) abstammt, bildete eine ländliche Bevölkerung ohne nationales Bewusstsein und eigene Ambitionen. Die Loslösung aus diesem einfachen ländlichen Milieu war mit dem Übergang zur deutschen Kultur verbunden. Die Ende des 19. Jahrhunderts lokal auftretenden Spannungen, die heute in Polen mit den Symptomen der polnischen Nationalbewegung gleichgesetzt werden, hatten keinen solchen Charakter und gingen oft von polnischen Aktivisten und Journalisten aus Galizien und Posen aus, die von der breiten Bevölkerung Schlesiens nicht als die ihren angesehen wurden. Selbst bei den Schlesischen Aufständen muss genau unterschieden werden zwischen der aus Polen einströmenden nationalen Agitation, dem Einfluss der polnischen Kirche aus den nichtschlesischen Gebieten, der politischen Lage in Europa nach 1918 (in Verbindung mit der offenen Unterstützung Polens durch Frankreich, die vor allem darauf abzielte, das wirtschaftliche Potenzial Deutschlands zu schwächen und starke polnisch-deutsche Spannungen zu schüren) und dem praktisch nicht vorhandenen polnischen Nationalbewusstsein in Schlesien. In diesem Licht erscheint es richtig, festzustellen, dass die Gleichsetzung Schlesiens mit „seit Jahrhunderten polnischen Gebieten“ unangemessen ist. Richtig ist es hingegen, die Gebiete Schlesiens als „heute zum polnischen Staat gehörende Gebiete“ zu bezeichnen.
Und noch eine Präzisierung: Schlesien mit dem gesamten Gebiet Oberschlesiens gehörte nicht zu den polnischen Teilungsgebieten und war somit nicht Teil der preußischen Teilungsgebiete! Es wurde Mitte des 18. Jahrhunderts im Rahmen der inneren Grenzänderungen des Deutschen Reiches, die das Ergebnis der preußisch-österreichischen Schlesischen Kriege waren, Preußen angegliedert. Auch die Bezeichnung der Gebiete Westpreußens (mit den Städten Danzig und Thorn) sowie der Region Posen und der Umgebung von Bydgoszcz während der Teilungszeit als „polnische Gebiete“ kann umstritten sein und sollte genauer geklärt werden. In diesen Gebieten lebten seit dem frühen Mittelalter zwei Bevölkerungsgruppen, die polnische und die deutsche, in Eintracht zusammen. Die deutsche Gruppe, die zahlenmäßig oft dominierte, hatte einen starken Einfluss auf die Entwicklung dieser Regionen. So betrug beispielsweise 1853 der Anteil der deutschen Bevölkerung in Westpreußen 69 % und 1871 in Posen 41 %. Die Zugehörigkeit dieser Gebiete zum preußischen Staat, der entscheidende Einfluss Preußens auf die gesellschaftliche Entwicklung und die gemischte ethnische Zusammensetzung sprechen im Prinzip dagegen, diese Gebiete im 18. und 19. Jahrhundert als „polnisch“ zu bezeichnen.
Im folgenden Text stütze ich mich hauptsächlich auf Aussagen der Autoren Jerzy Szacki, Nora Koestler, Władysław Markiewicz und Thomas Schmid.
In zahlreichen, systematisch durchgeführten Untersuchungen werden Fragen im Zusammenhang mit der Erfassung der Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen einzelnen Gesellschaften selten behandelt. Wer solche sozialen Unterschiede und Gemeinsamkeiten qualitativ beschreiben will, benötigt Kenntnisse, die weit über den Bereich der Sozialwissenschaften hinausgehen. Hilfreich für die Sozialanalyse erweist sich die Belletristik, die den „Nationalcharakter“ widerspiegelt, ferner können philosophische Werke, häufig Publizistik oder auch andere wissenschaftliche Disziplinen herangezogen werden. Auf der Suche nach grundlegenden Fragen, die in ihrem Wesen den Kern der betrachteten sozialen Verhältnisse am besten wiedergeben, stößt man auf den Begriff „Bürgertum“. In der deutschen Geschichte ist es ein wesentliches soziales Element, in der polnischen Geschichte bleibt dieser Begriff jedoch unausgefüllt und liegt außerhalb der empirischen Realität dieses Landes. Das Bürgertum war überall im Westen vertreten, zu dem Polen gehören wollte, aber nicht gehörte, weil es nicht von den geistigen Werten geprägt war, die das westliche Bürgertum im Zivilisationsprozess verkörperte. Trotz der Vereinfachungen in dieser Formulierung weist sie doch darauf hin, dass sich in Polen jene Kultur nicht herausgebildet hat, die in Deutschland über Jahrhunderte hinweg Gegenstand der Überlegungen und Kritik vieler Generationen von Intellektuellen war. In Polen hätte kein Dichter wie Goethe schreiben können: „Woher könnte die Bildung kommen, wenn nicht aus dem Bürgertum?“. Charakteristisch für die polnische Sozialgeschichte ist die Feindseligkeit gegenüber dem Bürgertum, die sich in den Worten Tuwims (1930) „schreckliche, schreckliche Bürger“ zeigt.
Die polnische Bourgeoisie in Form des Adels lebte auf dem Land, die Bauern gehörten zur Gruppe der „Einheimischen“ und standen außerhalb des Begriffs der nationalen Gemeinschaft. In Polen kam es nicht zu einer Emanzipation der Bauern, die für die Zeit der Reformation in der Schweiz und in Südwestdeutschland charakteristisch ist. Dem entgegen wuchs in Polen seit dem 16. Jahrhundert die Bindung der Bauern an das Land, ihre persönliche, administrative, gerichtliche und materielle Abhängigkeit von ihrem Verwalter – dem Adligen –, was zu einer bäuerlichen Leibeigenschaft führte. Noch im 15. und 16. Jahrhundert erlebten die Städte eine Blütezeit, doch ab dem 17. Jahrhundert begannen sie allmählich zu verfallen. Ohne politische Macht und geschwächt traten sie in eine Phase der wirtschaftlichen Krise ein, während sich die Städte im Westen rasant entwickelten. Die Ursache dafür ist in der polnischen Adelsdemokratie zu suchen. Der polnischen Adelsstand gelang es, sich als vom König unabhängige, einflussreiche und zahlreiche Gesellschaftsschicht zu etablieren. Sie war Garant für Freiheit und Toleranz sowie für ein multiethnisches Zusammenleben. Durch den Ausbau ihrer Privilegien hemmte sie jedoch die gesellschaftliche Entwicklung, förderte und festigte die Bindung der Bauern an den Boden und bremste die Entwicklung der Städte und die Entstehung neuer Gesellschaftsschichten. Die national-revolutionäre Schicht des 19. Jahrhunderts in Polen konnte sich nicht einmal vorstellen, den Bauern Gleichberechtigung zu gewähren. Dadurch wurden die Bauern vom Kampf um die Vereinigung und nationale Unabhängigkeit ferngehalten. Kurz gesagt, die Bauernschaft gehörte nicht zur Nation, zur Gesellschaft, zum Staat. Die Vorherrschaft des Adels verhinderte die Entstehung einer bürgerlichen Schicht. Die Impulse der Aufklärung und der Revolution gingen von einer relativ breiten Adelsklasse aus, die auch Trägerin nationaler Befreiungsideen war. Die Bürger waren andere: Deutsche und Juden, die von der polnischen Krone und dem Adel mit beträchtlichen Privilegien ausgestattet und schon früh ins Land geholt worden waren. Ihre zivilisatorische Aufgabe bestand in der Schaffung einer bürgerlichen Kultur. Die Aufspaltung der sozialen Funktionen nach nationaler Zugehörigkeit führte dazu, dass das Bürgertum in Polen als dem polnischen Geist fremd angesehen wurde. Die kritische Intelligenz, die in anderen europäischen Ländern die bürgerliche Gesellschaft schützte, unterstützte in Polen noch lange die Ideale der Aristokratie. Die polnische Intelligenz, die im Exil viele europäische Erfahrungen gesammelt hatte, war weltoffen. Diese Impulse drangen jedoch nicht in die gesellschaftliche Realität des Landes vor.
Im 19. Jahrhundert gab es nur wenige, vom westlichen Beispiel inspirierte Personen, die von der Notwendigkeit einer bürgerlichen Mittelschicht und der historisch wichtigen Rolle der städtischen und industriellen Zivilisation überzeugt waren. Diese Kritiker der polnischen nationalen Realität und der Rückständigkeit des polnischen Adels wurden gegen Ende des 19. Jahrhunderts immer zahlreicher, was jedoch nichts an der Situation änderte. Aus den ideologischen Postulaten entstand keine neue Kultur, sondern lediglich ein neues bürgerliches Bewusstsein, das jedoch ohne die Unterstützung der nicht vorhandenen Bürgerschaft blieb. Als Träger dieses neuen Bewusstseins trat eine Gruppe der polnischen Intelligenz auf, die aus dem verarmten Adel stammte und sich im Wesentlichen nicht von ihren romantischen Vorgängern unterschied, da sie über keine wirtschaftlichen Mittel verfügte und sich im Wesentlichen auf die ideologische Formulierung von Zielen für die Zukunft beschränkte. Aber dieser Zustand der Dinge war nicht ihre Schuld. Die Ursache dafür lag nicht nur in der rückständigen wirtschaftlichen Entwicklung und den anachronistischen sozialen Verhältnissen, sondern auch in der Abwesenheit eines unabhängigen polnischen Staates und eines polnischen Bildungssystems, das alle Bildungsstufen umfasste. So kümmerte sich beispielsweise der deutsche Staat um die Einführung einer modernen Verwaltung, die Modernisierung des Landes und die Entwicklung der Industrie. Jeder Pole, der sich auf die Überwindung der Teilung Polens und den Wiederaufbau eines freien Staates vorbereitete, hatte keine Vorstellung von der Modernisierung des Landes und kümmerte sich nur um Traditionen, Gefühle und Symbole. Die polnische Gesellschaft blieb bis in die letzten Jahre eine agrarische Gesellschaft.
Da die Entwicklung der Städte und der ländlichen Provinzen gehemmt war, kam es nicht zu einem Ausgleich zwischen Stadt und Land, zwischen Bürgern und Bauern, der für eine erfolgreiche Modernisierung des Landes notwendig ist. Die verstärkte Industrialisierung und Modernisierung der Zwischenkriegszeit konnte daran nichts ändern. Industriezentren wie Łódź waren von rein agrarisch geprägten Gebieten umgeben. Auch die industrielle Modernisierung des Landes durch das sozialistische Regime nach dem Krieg trug nicht zu größeren Veränderungen bei. Erneut wurde die ohnehin schwache bürgerliche Schicht zerstört und damit einer ausgewogenen Modernisierung entgegengewirkt.
Obwohl es Polen inzwischen gelungen ist, diese Zwischenschicht zwischen Kleinbürgertum und Bourgeoisie zu bilden, ist bis heute ein Mangel an bürgerlichem Bewusstsein und damit verbunden ein Mangel an Bewusstseinswandel in Bezug auf bürgerliche Werte zu beobachten. Die alte polnische Mentalität hat bis heute überlebt, was sich beispielsweise an der Misstrauen gegenüber unternehmerischem Handeln einzelner Personen in weiten Kreisen der heutigen polnischen Gesellschaft zeigt. Das in Polen häufig anzutreffende sogenannte „polnische Marktgebaren“ widerspricht dem keineswegs, da daran wiederum Gruppen aus den Randbereichen der Gesellschaft beteiligt sind. Es ist jedoch zu erwarten, dass die neue europäische wirtschaftliche Ausrichtung Polens zu Veränderungen in der polnischen Denkweise führen wird. In diesem Prozess werden die letzten Überreste der agrarisch-feudalen Mentalität begraben, für die „Würde und Heimat“ mehr bedeuten als Staatsloyalität und garantierter Wohlstand.
Deutschland ist aus anderen Gründen als Polen von Provinzialismus geprägt. Berlin als Hauptstadt Deutschlands, als politisches, kulturelles und soziales Zentrum, ist nicht aus historischen Notwendigkeiten des Landes entstanden, sondern wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von Preußen aufgezwungen. Seit dem frühen Mittelalter bildete das universell ausgedehnte Heilige Römische Reich Deutscher Nation, das nur lose staatliche Strukturen umfasste, das Dach für die Entwicklung der deutschen Länder. In Frankreich herrschte seit Jahrhunderten ein territorialer Staat mit zentralistischer Organisation, dem alle Provinzen unterworfen waren, was zu einer stark homogenen Gesellschaft führte. In Deutschland kam es dazu nicht, was auf den Kampf der Städte und Dörfer um Freiheit auf lokaler Ebene zurückzuführen ist, der sich dem aufkommenden Absolutismus in der Zeit des Zerfalls der mittelalterlichen Strukturen widersetzte. Das Ergebnis ist der in Europa selten anzutreffende deutsche „Polyzentrismus“, der die regionale Vielfalt gefestigt hat. Ohne ein Zentrum blieben regionale Kulturen erhalten und regionale Zentren wurden gestärkt. Die Unterschiede zwischen Metropole und Provinz waren nicht so groß wie beispielsweise in Frankreich, die Provinzen behielten ihr eigenes Leben, ihre eigenen Merkmale und Strukturen. Da es in Deutschland so schwache zentralistische Bestrebungen gab, wurde dies während des Nationalsozialismus mit solcher Härte durchgesetzt (ähnlich wie im sozialistischen Polen der Nachkriegszeit). Das bereits von Bismarck vereinte Deutschland degradierte die Vielfalt der „Länder“ zu Folklore. Was bisher zusammengehörte, wurde dadurch getrennt: Demokratie und Föderalismus. Die Schwächung der regionalen Unterschiede hemmte die fortschreitende Annäherung zwischen Bürgertum und Landbevölkerung. Mit der Machtübernahme des nationalsozialistischen Regimes wurde die bäuerliche Kultur geschwächt und durch nationale Interessen ersetzt. Die deutsche Provinz wurde diskreditiert.
Deutschland bezeichnet sich ebenso wie Polen als „verspätete Nation“, und zumindest in dieser Hinsicht sind sich beide Völker ähnlich. Das erst 1871 vereinigte Deutschland durchlief seine spezifischen Entwicklungsstadien im politischen, sozialen und kulturellen Bereich mit großer Verzögerung gegenüber Großbritannien oder Frankreich. In Polen zeigten sich vielfältige Anzeichen der Rückständigkeit gegenüber Westeuropa. Als synthetischer Indikator für den Modernisierungsgrad eines Landes dient der Grad der Industrialisierung. Sowohl Polen als auch Deutschland starteten im 19. Jahrhundert mit erheblichem Rückstand in die Industrialisierung. In Deutschland verlief die industrielle Revolution im Vergleich zu Frankreich oder England bis 1873 nur langsam. So betrug beispielsweise die Produktion von Roheisen im Jahr 1840 in England 1,2 Millionen Tonnen, in Frankreich 0,4 Millionen Tonnen und in Deutschland 0,2 Millionen Tonnen. Seit den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts kam es in Deutschland zu einer rasanten Entwicklung der industriellen Produktion. In den Jahren 1870-1890 verdoppelte sich die Roheisenproduktion in England, in Frankreich verdreifachte sie sich, während in Deutschland die Roheisenproduktion um das 14-fache stieg. Deutschland war nicht nur dabei, seinen Rückstand aufzuholen, sondern auch die anderen Industrieländer Europas in kurzer Zeit zu überholen.
Anders war die Situation in Polen. Die industrielle Revolution kam mit unterschiedlicher Geschwindigkeit in die heutigen polnischen Gebiete, am schnellsten jedoch in Oberschlesien, wo die Kohleförderung zwischen 1852 und 1890 um das Zwölffache stieg. Das Kongresspolen gehörte zwar zu den am stärksten industrialisierten Gebieten des Russischen Reiches, aber die industrialisierten Gebiete umfassten nur wenige Inseln, darunter Warschau, Łódź, Żyrardów, den Bezirk Dąbrowa, Staropola und Białystok. In der preußischen Provinz Posen und in Westpreußen (Umgebung von Danzig und Bydgoszcz) dominierte die kleine Lebensmittelindustrie. In Galizien wurde Erdöl gefördert. Insgesamt ist das Ausmaß des industriellen Wandels in Kongresspolen und Galizien jedoch nicht mit den Veränderungen in Deutschland zu vergleichen. Deutschland nutzte die Erfahrungen Englands und Frankreichs, vermied Fehler und führte sofort die für die damalige Zeit modernsten Produktions- und Managementmethoden ein, was zu einer engen Verbindung zwischen Produktions- und Finanzkapital führte. Auch in den polnischen Gebieten wurden in dieser Zeit Aktiengesellschaften, Syndikate, Kartelle und Konzerne gegründet, doch verlief diese Entwicklung viel langsamer als in Deutschland, und die Förderer dieser Veränderungen waren vor allem deutsche Kapitalisten.
Ein charakteristisches Merkmal des Industrialisierungsprozesses in Deutschland war der staatliche Protektionismus, der durch die Stärkung eines höheren Organisationsgrades des gesamten industriellen Lebens und eine effektive Marktkontrolle den Industrialisierungsprozess und monopolistische Tendenzen begünstigte. Auf diese Art von Unterstützung stieß die polnische Industrieklasse in den Teilungsgebieten nur selten. Ein weiterer besonderer Aspekt der industriellen Revolution in Deutschland war die Schaffung vielfältiger Sozialhilfeeinrichtungen. Das wilhelminische Deutschland initiierte zweifellos die Einführung sozialer Sicherungsmaßnahmen wie Krankenkassen, Invaliditätsversicherung, Arbeitssicherheit und Schutz der Arbeit von Frauen und Kindern. Die von den polnischen Positivisten propagierte Forderung nach organischer Arbeit als Arbeit am Aufbau der Grundlagen einer neuen polnischen Gesellschaft verdrängte jedoch nicht die in der polnischen Gesellschaft verbreitete Idee der heroischen Aufopferung. Als Gegenleistung für die tägliche beharrliche und disziplinierte Arbeit zum Wohle des Landes wurden patriotische Gesinnung, Blutvergießen und die Bereitschaft, sein Leben zu opfern, weiterhin mit größter gesellschaftlicher Anerkennung bedacht.
Ein besonders charakteristisches Element der Industrialisierung ist der erreichte Grad der Urbanisierung. So lebten beispielsweise in Oberschlesien zu Beginn des 20. Jahrhunderts über 50 % der Bevölkerung in Städten. In Kongresspolen entstanden nur drei Gebiete mit einem hohen Urbanisierungsgrad: Warschau, Łódź und Sosnowiec. Zu den großen Städten zählen Warschau, Łódź, Krakau, Lemberg und Posen. Der Standard der kommunalen Wirtschaft, der Kanalisation und der sanitären Einrichtungen dieser Städte war niedrig, den besten Zustand der städtischen Infrastruktur erreichten die Städte in den Teilungsgebieten Preußen und Oberschlesien. Die einzelnen Teilungsgebiete unterschieden sich bereits in ihrem Aussehen und ihrer Architektur deutlich voneinander. Während in Kongresspolen und Galizien in fast allen kleinen und mittleren Städten Holzhäuser vorherrschten, dominierten in den Teilungsgebieten Preußens und Oberschlesiens gemauerte Häuser. Die Bevölkerung der polnischen Städte war ethnisch sehr gemischt. In Kongresspolen war sie polnisch-jüdisch, in Galizien polnisch-ukrainisch-jüdisch, im preußischen Teil polnisch-deutsch. In einigen Städten, wie z. B. in Lemberg, lebten Dutzende verschiedener ethnischer Gruppen harmonisch zusammen. Aufgrund der verspäteten Industrialisierung Polens blieben die polnische Landwirtschaft und das Landleben in einem Zustand schrecklicher zivilisatorischer Rückständigkeit. Die einzige Ausnahme bildete hier der preußische Teil, der dank der Politik des preußischen Staates und der Initiative fortschrittlicher Landbesitzer früh modernisiert wurde, was sich auch positiv auf den Zustand der polnischen Bauernhöfe in dieser Region auswirkte. In der Region Posen wurde 1913 eine Getreideproduktion pro Kopf von 586 kg erreicht, in Kongresspolen 223 kg und in Westgalizien nur 144 kg.
Die polnische Bevölkerung war (ohne eigenes Verschulden und aufgrund der verzögerten sozialen Entwicklung) durch einen strukturellen Überschuss an konservativen und feudalen Elementen, eine dünne Schicht einer neuen bürgerlichen Klasse und eine sehr kleine intellektuelle Elite (Intelligentsia war sehr selten) gekennzeichnet, wobei die große Masse aus ungebildeten, durch Armut und Ausbeutung eingeschüchterten Bauern bestand, die kein nationales Bewusstsein und kein Bewusstsein für ihre eigene soziale Situation hatten. Ende des 19. Jahrhunderts wurde in Preußen der Analphabetismus beseitigt, dafür konnten 50 % der Bevölkerung in Galizien und etwa 70 % in Kongresspolen noch immer nicht lesen und schreiben.
Insgesamt lässt sich feststellen, dass die Zeiten der industriellen Revolution die polnische Gesellschaft nicht näher an die deutsche herangeführt, sondern weiter von ihr entfernt und die Fremdheit beider Gesellschaften vertieft haben.
Bruno Nieszporek (1993)
Basierend auf dem Buch „Deutsche und Polen – 100 Schlüsselbegriffe“ 1992, herausgegeben mit Unterstützung des Deutschen Polen-Instituts Darmstadt
Quelltext: silesiainfo.net/SilesiaArchiv/SlonskDe/Slonsk/Abni/GSOS/SpoleczenstwoSrodowisko.htm