Über die polnischsprachigen Deutschen Oberschlesiens
Ja, es gab uns, seit das Nationalbewußtsein auch die breitesten Kreise des einfachen Volkes erreichte, gab es uns, und es gibt uns immer noch, die Polnisch sprechenden Deutschen, so wie es über mehr als ein Jahrhundert lang eine nicht unbedeutende Anzahl deutschsprachiger Franzosen gab, deren Überreste immer noch in Elsaß vorzufinden sind.
Ja, ich weiß: Unsere Existenz ist auf den ersten Bück ungewöhnlich, verwundernd, dies dürfte daran liegen, daß wir nie ein Sprachrohr hatten, das uns ohne Verzerrung vertreten hätte; so wie die polnischen Oberschlesier, die sich auf ihre Szafraneks und Lompas stützen konnten und immer noch können. Und wir hatten kein Sprachrohr, denn die Sprache, unsere Sprache, ist uns durch blinde, chauvinistische Bestrebungen beider, unsere Volkszugehörigkeit beanspruchenden Nationen, madig gemacht worden, weswegen wir uns vielfach ihrer schämten, sie verleugneten, aber doch nie ganz verwarfen, denn wir hatten sie im Blut, wie wir unseres deutsches Bewußtsein, zu dem wir durch das Preußentum gelangten, im Herzen hatten. Ein weiteres Vorurteil, das da verkündete, deutsche Zugehörigkeit darf nur auf Deutsch verlautbart werden, tat das seine dazu. Jedoch weder das Verleugnen unserer Alltagssprache noch das Singen unserer deutschen Heimatlieder (was schon mal mit Stielaugen geschah) machte uns zu deutschsprachigen Deutschen, sondern „nur“ zu Deutschen, die auch Deutsch sprachen.
Wir waren ja auch keine „Deutschen“. Wir waren „Niymce“. Dieses Wort heißt im korrekten Polnisch „Niemcy“ und wird mit „Deutsche“ übersetzt.
Über Jahrhunderte galt in unserem Volksstamm die Regel: Je höher die Bildung, je höher der soziale Status, – desto überzeugter das Bekenntnis zur deutschen Nation. Nur wenige Intellektuelle schlugen sich auf der polnischen Seite.
Freilich waren nicht alle polnischsprachigen Oberschlesier Deutsche. Ein – je weiter in der Zeit zurück, desto größerer – Anteil von ihnen hatte nicht nur polnische Zunge; er hatte auch polnisches Herz. Angehörige dieser als auch Polen, die keine Oberschlesier waren, im untertänigsten Verbund mit der nach dem epochalen Jahr 1945 aktuellen Propaganda der Ideologie der Psychopathen, erklärten alle Oberschlesier zu waschechten Polen. Dies ‚geschah mit einer Argumentation, der zufolge einige Staaten in Europa verschwinden und Millionen von Menschen ab sofort Deutsche oder Franzosen werden müßten -worüber wohl nicht nur die Schweizer und die Wallonen sich außer. Staunen auch noch zu anderen Empfindungen und Reaktionen genötigt sehen dürften.
Es schmerzte, denn es gab uns nun mal …
Nach 1945, aufgrund des Verhaltens der eigenen, der deutschen Nation, fanden sich die uns vorangehenden Generationen in einem fremden Staat wieder, den sie weder erstrebten noch herbeisehnten.
Die von unseren Vätern – sie gehörten der ersten Generation an, die vorwiegend, auch im alltäglichen Untereinander und auch den Eltern gegenüber Deutsch sprach – die Soldaten waren und überlebten, kehrten aus der Kriegsgefangenschaft nach Hause – ins Ausland – zurück.
Die im Gefolge der durchziehenden Front begangenen Morde und andere Grausamkeiten der „Befreier“, die alle Oberschlesier, ohne Rücksicht auf ihr Volkszugehörigkeitsbekenntnis trafen, waren vorbei und so versah man sie, wie schon die daheim Gebliebenen mit polnischen Pässen und ließ sie in ihrer Mehrzahl in Ruhe. „In Ruhe“, das heißt keine Aussiedlung, keine Lager, keine zusätzliche Gefangenschaft in Rußland; bei so manchem Unglücklichen befand man die Zeit der westlichen Kriegsgefangenschaft als zu kurz und schickte ihn zusätzlich nach Sibirien.
Die Eliten und die Deutschen, die nur Deutsch sprachen, waren geflüchtet. Die kleinen Aktivisten des vorhergegangenen braunen, deutschen Regimes – soweit dingfest gemacht – und gleich nicht wenige Unschuldige dazu, bestrafte man auf die damals übliche, unmenschliche bis zum Tod durch Folter reichende Weise.
Dann kamen wir – die nächste Generation. Geboren im Haus der Väter, im Lande derselbigen und doch in der Fremde. Als Kleinkinder wußten wir das noch nicht. Erst später. Bei der Wahrnehmung der Sperre zwischen uns und den Zugezogenen. So richtig erst in der Schule.
Die geliebten Eltern waren es doch, die samt den nicht mindergeliebten Großeltern, den anderen Anverwandten, den nahen und entfernteren Nachbarn, den Vertrauten und den Freunden der Familie -kurz: die Stammesgenossen waren es, die uns einimpften, so wie sie selber Deutsche zu sein.
Als solche standen wir dann Lehrern gegenüber, die einem zu Unrecht überfallenem, sich selbst, die Menschenwürde und das Recht verteidigendem Volk angehörten, dessen Geschichte ruhm- und opferreich war; und unsere Herzen gehörten einer Nation, die unfassbare Verbrechen beging. Von den wenigen, die Deutschlands Würde durch die – um einen polnischen Dichter zu zitieren „Verkrüppelte Zeit“ hinüber retteten, wußten wir nichts, und man hatte kein Erbarmen mit uns.
So etwas, wie J.J. Lipskis Essay „Zwei Vaterländer, zwei Patriotismen“ existierte noch nicht auf dem Papier und wohl auch nur in wenigen polnischen Herzen.
Das Verhältnis der Polen uns gegenüber war problematisch, zweideutig. Es hatte eine offizielle und eine reale Komponente. Die erste war sonnenklar: Sie besagte, wir wären echte, über Jahrhunderte untejochte und mindestens ebensolange nach nationaler Befreiung siechende Polen, lauter Nachkommen hochverdienter, ehrbarer Streiter um die edle, einzig wahre, selbstverständlich polnische Identität Oberschlesiens. Die zweite äußerte sich in der schon erwähnten, sowohl unsichtbaren als auch unüberwindlichen Sperre zwischen uns und den Polen und der Art und Weise, wie sie uns anpackten; allen voran in der Schule.
Wir bekamen die durch den Kommunismus zusätzlich verzerrte polnisch-nationale Erziehung übergestülpt. Dies von Lehrern, deren sowohl Objektivität als auch Bildungsniveau zu wünschen übrig ließen, und die es einem schwer machten, sie zu bewundern. Denen wir nach der Deutschen, das heißt nach der Hunnenbrut rochen und die uns deshalb vielerorts nicht respektierten.
Wir wurden nicht gefragt, was wir sind – die Antwort kannte man ja. Uns wurde gesagt, was wir sind, ohne uns erstens: Das Recht auf Widerspruch einzuräumen, zweitens: Ohne nur davon zu träumen, daß wir es auch tatsächlich sind oder es überhaupt je sein wollen. Wir trugen bereitwillig das deutsche Erbe in uns -sprachen aber die Sprache der Fremden, sie die unsere. Sie benutzten die Sprache in ihrer Hochform, wir im Dialekt. Dieser ist ein Kleinod der polnischen Sprache, ihr sie bereichernder, integrer Teil. Durch dieses Idiom sind wir zweifellos auch Träger der polnischen Kultur. Damals allerdings nur für die Gebildeten und Gelehrten unter den Polen. Uns wurde unsere Mundart, unsere wahre Muttersprache als minderwertig verklickert – wie schon unseren Vorfahren seitens der dummen und schändlichen – aber gültigen – Ideologie der eigenen Nation. Die Polen stülpten uns eine Geschichte, eine Mentalität, eine Kultur über, die nicht die unsere war. Ihr Nationalstolz, ihre Werte, ihre Fahnen – es waren nicht unsere Werte, nicht unsere Fahnen, nicht unser Stolz. Noch weniger gefiel uns die damals auch im polnischen Staate amtliche Ideologie der Geisteskranken. Es war uns dies alles fremd. Trotz der gemeinsamen Sprache – wollten wir und konnten wir keine Polen sein, denn: Bevor wir in der Schule die polnischen Epen in die Hände bekamen, hatten uns schon Eichendorff, Busch und die Grimms ihre Stiginata aufgedrückt. Sowohl in der familiären als auch in der nationalen Tradition hatten wir andere Kodierung als der zugezogene Bevölkerungsanteil und dessen Kinder. Sie waren vom Kreuz der Tapferen determiniert, wir vom Eisernen Kreuz. Unsere Vorfahren ritten nun mal nicht mit Leutnant Skrzetuski auf Ukraines Wilden Feldern gegen Kosaken und Tataren, sondern mit Blücher bei Leipzig und Waterloo gegen Napoleon. Sie hatten Anteil an dem erhabenen Ereignis im Versailles‘ Spiegelsaal 1871 und nicht an der Proklamation der ersten geschriebenen Verfassung Europas in Warschau 1791. Und, um es nicht unausgesprochen zu lassen: In Auschwitz standen wir vor – sie hinter dem fatalen Tore. So etwas entzweit. Für immer. Sowas kann auch die gemeinsame Sprache nicht kitten. Sich danach mit der polnischen Gloriole zu schmücken, wäre widerwärtig, schamlos, unwürdig.
Wir waren ausgeschlossen und wir schlossen uns aus. Der Neid auf die „unbefleckte“ nationale Tradition der Fremden war eine zusätzliche Plage. Dieser ging einher mit der Scham und dem stillen Vorwurf an Gott und die Welt wegen der neuerlichen Barbarei der eigenen Nation.
Die deutsche Sprache, von Teilen des oberschlesischen Landvolkes nur leidlich beherrscht, hatte kaum Chancen nach 1945, zumal sie bis dahin sowieso nur als Amtssprache betrachtet und benutzt wurde, die wenigsten sprachen Deutsch untereinander in ihren eigenen vier Wänden. Als Alltagssprache diente breiten Kreisen der Oberschlesier Deutscher Nation der oben erwähnte und beschriebene Dialekt; den polnischen Oberschlesiern sowieso. Wir, die Nachgeborenen, vergaßen mit dem Schuleintritt nach und nach das uns von den Eltern oft nur bruchstückhaft beigebrachte Deutsch. Behilflich dabei war uns das harte Los derer, die als Eingeschulte gar kein Polnisch konnten. Ab da lobten wir unseres deutsches Vaterland nur noch auf polnisch – wie schon die meisten unserer Väter.
Die Reaktionen der Polen auf unseres bekanntes Deutschtum waren vielfältig, aber so gut wie nie positiv. Sie reichten von Geringschätzung über Skepsis, Gereiztheit, Ablehnung, Spott, bis hin zum blanken Haß. Beim Bestehen auf unserem Deutschtum erfuhren wir Ablehnung; Ausschluß, Haß. Wollten wir es mal, um Vorteile zu erhaschen, verbergen – hielt man uns es vor. An einen großherzigen Fall von Akzeptanz unseres „Kainmals“ kann ich mich persönlich nicht erinnern. Wer als Oberschlesier freiwillig – dabei spielte es keine Rolle, ob aus Überzeugung oder aus Opportunismus – den Polen mimte, war suspekt. Dagegen ein erklärter Deutscher zu sein war zumindest unfein. Daß es an und für sich schwer ist, nach Auschwitz Deutscher zu sein, rafften die Polen nicht, und wollten es auch nicht raffen. Sie brachten es eher mit bösem Willen in Verbindung, In ihrem, uns gegenüber ungeregelten, nicht zuletzt eben deshalb tückischen Verhältnis, hielten sie uns die offizielle Komponente ihrer Einstellung uns gegenüber vor: Wir hatten doch von ihnen – und dem Schicksal – alle Chancen und die Gnade bekommen, keine Deutschen sein zu müssen, sie sind uns von den nämlichen auf dem Tablett serviert worden, man hat uns goldene Brücken gebaut, um sie den Hunnen zu entreißen.
Und? Nichts. Deutsch bleibt Deutsch. Undankbares Völkchen. Die „Großzügigkeit“, Pole sein zu dürfen, auszuschlagen! Unerhört! Vor allem ging den Polen eins nicht in den Kopf- Wie kann man ein Deutscher sein wollen?
Wenn die eingeborene Bevölkerung Oberschlesiens 1965 zu ihrer nationalen Zugehörigkeit befragt worden wäre, wäre der Anteil der prodeutschen Stimmen schätzungsweise weit höher ausgefallen als 192 1. Neben anderen wesentlichen Faktoren, wie z. B. dem Gipfel der natürlichen wie auch der gelenkten Germanisierung in der Zwischenkriegszeit, dürfte das Verhalten der Polen in Oberschlesien nach 1945 entscheidend für die Steigerung des deutschen Nationalgefühls unter den Oberschlesiern beigetragen haben.
Etliche der Oberschlesier schöpften ihr Selbstverständnis als Deutscher aus der Tatsache, Soldaten Deutschlands gewesen zu sein. (Dabei waren sie aber nur Soldaten Hitlers – leider.) Das reichte ihnen, damit wischten sie alle Zweifel ob ihrer polnischen Wiegensprache weg. Sie fühlten sich auch nicht für deutsche Verbrechen in der „Verkrüppelten Zeit“ verantwortlich und ihre Augen sahen meistens – oder gar nur – russische und polnische Greueltaten. Die andere deutsche Spitze, zu der beispielsweise Thomas Mann zählte, war uns unbekannt. Die von uns, die zu ihr Zugang hatten, befanden sich hinter der Oder-Neiße-Linie – meistens noch viel weiter westwärts – und der Nachwuchs hierzu steckte noch in den Kinderschuhen. So breitete sich der seelische Notstand über uns aus. Wir wollten raus – weg von der Heimat, in den Westen des entschwundenen Vaterlandes, um Deutsch sein zu dürfen.
II
Dann kamen wir hier nach Westdeutschland, das sich „Bundesrepublik“ nannte. Kleckerweise damals, in den 1970er Jahren, aber doch. Der erste Schock traf uns im Aufnahmelager Friedland, in dem wir echten Polen begegneten. Nochmals: Echten Polen und keinen polnischsprachigen Deutschen wie wir, oder vergleichsweise die Masuren, Ermländer, Kaschuben, Slowinzen (Auch diese Volksstämme waren in ihrem Nationalbewußtsein gespalten.) – nein, echten Polen, von jenen, die uns zu Hause unseres Deutschtums wegen piesackten – um es milde auszudrücken. Sie unterwanderten das großzügige deutsche Staatsangehörigkeitsgesetz um als Deutsche anerkannt zu werden, denn zu Hause brachten ihnen ihre nationalen Dunstschwaden keinen materiellen Wohlstand. Ihre Zeitungsartikel, in denen sie dann ihr Leben in Deutschland vor sich selbst und anderen rechtfertigten, durften wir in späteren Zeiten lesen.
Gleichviel: Wir waren hier, im freien, demokratischen Deutschland, für das schon immer unsere Herzen schlugen, zu dem wir uns bekannten, mit dem wir uns identifizierten; wo wir hingehörten. Dachten wir.
Wir fanden eine uns völlig fremde Welt vor. Nein, wir können nicht sagen, daß keiner auf uns gewartet hat. Die Verwandten waren da. Für das offizielle Deutschland waren wir zweifellos seine Bürger. Auch die Beamten waren informierte Leute und die sofortige Einbeziehung in das soziale Gefüge der BRD sorgte für die notwendige Sicherheit und langen Atem.
Dies alles war aber nur ein – wenn auch äußerst wichtiger – Teil der neuen Wirklichkeit. Zur richtigen Integration in der neuen Welt – in unserem neuen Leben – war die Konfrontation außerhalb der Amtsbereiche des westdeutschen Staates notwendig. Die Konfrontation mit den Spielregeln, nach denen er funktionierte, mit seiner Arbeitswelt und, vor allem, mit seinen Menschen. Die Begegnung mit jenen war der nächste, weit größere, Schock. Wir, die wir nicht nur aufgrund des Grundlagenvertrages von 1970, sondern auch und vor allem aufgrund unserer unerschütterlichen deutschen Gesinnung vom amtlichen Polen – und das, wohl bemerkt, in den 1970er Jahren – als Deutsche anerkannt und als Deutsche ausreisen durften, galten nicht als solche den Mitbürgern im ersehnten und in den vielen Jahren der Trennung heiß angebeteten Vaterlande.
Die älteren von ihnen erinnerten sich noch schemenhaft der Provinzen östlich der Oder-Neiße-Linie, stammten vielfach selber aus ihnen, aber es war für sie ein abgeschlossenes Kapitel, irgendeine besondere Solidaritätsverpflichtung deswegen uns gegenüber empfanden nur die wenigsten von ihnen.
Ansonsten standen wir Leuten gegenüber, für die der Mars näher lag als Hinterelbien und für die das Jahr 1945 gefühlsmäßig genauso weit entfernt war wie das Jahr 1241. Die Jüngeren von ihnen – und diese waren in der Mehrzahl – standen eben anderen Lehrern gegenüber, Lehrern, die die „Verkrüppelte Zeit“ nicht so sehr deswegen tabuisierten, weil sie selbst an ihrer Verkrüppelung Anteil hatten, sondern vor allem deshalb, weil die neue Zeit es so gebot.
Nicht nur die Schule, ihre ganze Entwicklung, ihre ganzen, den Menschen prägenden und formenden Faktoren, waren den unseren grundverschieden. Die Westdeutschen wußten nicht, daß wir das Anrecht hatten, zu kommen. Sie kannten auch sonst das Grundgesetz ihres Landes nicht besonderes gut, was uns ins Staunen versetzte, denn was ist denn das für ein Bürger, der die Gesetze des eigenen Landes nicht kennt? Wir kannten die Polnischen; auf dem Papier und in der Wirklichkeit.
Die Politik galt ihnen als anrüchig, zumal die des Westens. Was uns heilig war, bereitete ihnen sichtliches Unbehagen. Die Werte, die in ihrem Teil Deutschlands garantiert waren und gelebt werden durften -derentwegen wir kamen – schätzten sie nicht besonders. Nach unserem Verständnis verrieten sie sie gar mit ihrem Gehabe. Sie waren nicht bereit, sich in uns zu versetzen und unser Eindruck über sie interessierte sie nicht. Sie waren Meister im Vertreten der Interessen anderer Leute, vorausgesetzt, diese waren tot bzw. lebten weit weg und unbedingt in der westlichen Hemisphäre. Auch da machten sie noch für uns nicht nachvollziehbare Unterschiede: Die deutschen Toten, besonders die des 11. Weltkrieges, waren nicht bedauernswert, waren Tote zweiter Klasse.
Ihrer glücklichen Lage, die in dem Frieden – und Freiheitsgeschenk der Geschichte bestand, waren sie sich nicht bewußt. Vielmehr taten sie so, als ob nicht nur diese, sondern sogar der Ort ihrer Geburt ihre höchstpersönlichen, unanfechtbaren Leistungen wären. Sie saßen auch der irrsinnigen Überzeugung auf, die einzigen auf dem Erdball zu sein, die für ihren Jammer auch tatsächlich einen Grund hätten. Diese ihre Überzeugung führte auch zu dem engherzigen, bedauernswerten Geisteszustand, der ihnen uns unserer Geldbezüge neiden ließ. So mußten wir das Amtsgeld mit Anhörung bitterer bis wütender Vorwürfe und mit der uns anderswoher bekannten Ansicht des zugekehrten Rückens bezahlen.
Dieser Sachverhalt tötete unsere Dankbarkeit. Man wollte sie auch nicht; was man wollte war, keine Konsequenz für den Staat davor tragen zu müssen. Diese war den Menschen in Westdeutschland zutiefst zuwider. Sie glaubten lieber an die Mär von der „Stunde Null“ wie an die Existenz von Feuer und Wasser. Jetzt wußten wir auch, wie schwer es ist, Deutsche zu sein, wenn man für solche nicht mal von den eigenen Landsleuten gehalten wird. Sie wollten unseres Deutschtum vielfach nicht hinnehmen, nicht anerkennen. Eine Rosine dieses Phänomens war die Anzüglichkeit der eigenen Stammesgenossen, die die Heimat um 1945 verließen; ja, gar die der eigenen Verwandten.
Wir hofften auf die Akademiker, auf die Elite. Diese glich jedoch in ihrer Einstellung uns gegenüber den sonstigen Bevölkerungsschichten vollkommen. In ihrer Einstellung unserem höchsten Gut gegenüber -Deutschland – übertraf sie diese noch in ihrem postnationalem Wahn. Er war bei ihr intensiver, ausgeprägter, sie versteifte sich auf ihn, hing an ihm, verteidigte ihn wie die Bache ihre Jungen. Ihre Angehörigen taten so, als ob es nur eine Tümmelei, eine Gefahr, ein Pest und eine Hydra gäbe, die es abzuwehren, niederzuhalten, zu hassen gilt – die deutsche. Einer ihrer Repräsentanten sägte einmal: „Um das Vaterland zu. kritisieren, muß man es sehr lieb haben.“ Demnach hätte Deutschland das meistgeliebte Vaterland der Welt sein müssen, denn aller Orten regnete es Kritik und ihre Steigerungsformen. Wir sahen aber nicht, daß dieses aus Vaterlandsliebe resultierte – eher aus Selbsthaß, aus niederziehender Selbstbezichtigung, aus dem Gefühl heraus, die eigene Existenz als Frevel zu empfinden. Man gefiel sich darin, im Mißmut über das Deutsche zu suhlen und das mit einer Affektiertheit, die wohl das eigene Sein vor den eigenen und der Welt Augen entschuldigen sollte. Die westdeutschen Intellektuellen erinnerten an die vergewaltigte Frau, die die ihr angetane Schändung mit Schrubben der längst sauberen Haut wegwaschen, ungeschehen machen möchte. Sie taten so, als ob sie in ihren Identitätsüberlegungen unendlich weiter wären als sonst jemand auf dieser Welt; auf jeden Fall weiter als ein hergelaufener, geistig zurückgebliebener, denn in seinem herübergeretteten, archaischen, zu alledem auch noch deutschen Nationalgefühl einen Wert (!) sehender Oberschlesier. Dabei waren sie meist nur hohl schwatzende Ignoranten, die sich im Reiche der Einbildung bewegten. Und sie waren darin ganz allein. Ein weiterer Aspekt unserer Begegnung mit den Menschen in der damaligen Bundesrepublik waren die westdeutschen Ausländer, damals noch vorwiegend „Gastarbeiter“ genannt. Diese, unserer fremd klingenden, unbeholfenen Sprache wegen, hielten uns für ihresgleichen. Dies wiederum hatte zur Folge, ihre größere als sie sie den Einheimischen angedeihen ließen, Vertraulichkeit zu genießen. Sie ließ ihnen ihre Einstellung dem Deutschen gegenüber uns kundzutun. Gräßlich, deprimierend, unfair, hinterlistig war diese allemal. Darüber hinaus strotze sie vor Geringschätzung“ Deutschfeindlichkeit, Haß.
Es tat weh – man erstickte an einer solchen schon in Polen und wollte ihr eigentlich mit der Übersiedlung entgehen.
Dies alles war jedoch bloß ein Mückenstich gegenüber der Entschuldigung eines Westdeutschen für seine, in unserer Anwesenheit ausgesprochene „ausländerfeindliche“ Bemerkung. Die, uns in der Absicht, vorsätzlich zu verletzen, gegen die Stirn direkt geschleuderte Gemeinheit war nicht so schmerzhaft.
All diese Erfahrungen bewirkten ein Gefühl des Fremdseins, auch dann, als wir schon die deutsche Sprache beherrschten, denn nicht nur sie trennte uns, nicht nur des Akzents wegen blieben wir weiterhin ausgeschlossen. Es trennten uns Raum und Zeit; in unserem Raum hat uns die Zeit unter anderem noch den Wert beigebracht, das Vaterland zu lieben. Hier galt er als Greuel.
Die Einheimischen fragten nicht, sie referierten. Sie wurden auch schon mal uns, den Exoten, laut gegenüber. Sie verstanden genausowenig wie die Polen, wie kann man ein Deutscher sein wollen. Sie schienen auf die uns vom Schicksal und den Polen gebotene angebliche Chance, keine Deutsche sein zu müssen, eifersüchtig zu sein. Wir waren in ihrem Verständnis rechts, weil deutsch. Und Deutsch galt ihnen als nicht gut, ja als widerwärtig. Hier, in Westdeutschland, fingen unsere Schwierigkeiten mit unserem deutschen Nationalbewußtsein erst richtig an. Zu Hause hatten wir keine; dort waren die Fronten klar, dort sprachen fast alle Deutschen polnisch.
Hier kannte man uns nicht. Man nannte uns „Spätaussiedler“. Schon diese unzutreffende Bezeichnung machte uns die Unkenntnis unserer soeben durchlebten Lage bewußt. Wir wurden doch gar nicht ausgesiedelt, im Gegenteil, wir hatten 20 und mehr Jahre Antragstellerei hinter uns. Der Benennung als „Auslandsdeutsche“ harrten wir vergeblich entgegen. Der Begriff „Volksdeutsche“ fiel da schon öfters. Da merkten erst einige von uns und nahmen es wahr, daß unser Deutschtum nur für uns selbst selbstverständlich war, daß es ansonsten weder die 80 Millionen Deutschen noch die 40 Millionen Polen noch sonst jemand auf der Welt ohne weiteres begreifen und hinnehmen kann – ausgenommen jene Toleranten, jene Gebildeten, jene Feinfühligen, bei denen die Herkunft meistens sowieso keine herausragende Rolle spielt , die sie jedoch auch nicht mal dann verdammen, wenn sie deutsch ist, sondern neben anderen Werten stellen und achten.
Eine Ernüchterung und die Einsicht, sich in die Menschen in Westdeutschland hineinversetzen zu müssen, um ihre Entwicklung nachzuvollziehen, sie verstehen zu lernen, war eine Folge dieser gewichtigen Erfahrungen.
Es gab aber noch andere, weit unangenehmere Auswirkungen dieses Tatbestandes. Kamouflage sich zwar als Ausländer auszugeben, aber bloß nicht als Pole, der wollte man eben auch jetzt nicht sein – man kann ja auch nicht etwas sein, nur weil man dafür gehalten wird – war eine Art, dem Problem aus dem Wege zu gehen. Ausgeprägter, plakativer Polenhaß – bloß um sich aufzuwerten, um so sein Deutschtum unanfechtbarer zu machen – eine Andere.
Anbiederei, Schleimerei den Einheimischen gegenüber in der Hoffnung, so weniger „polnisch“ zu sein, war eine weitere Facette unserer Psychose. Einige wurden zu Weltbürgern; den aufgesetzten und den echten. Einige wenige kehrten resigniert an die Oder zurück. Einige andere wiederum sind nicht Deutsch geblieben. Sie entschieden sich angesichts der allgemeinen, Oberschlesien betreffenden Ignoranz breiter Kreise der westdeutschen Gesellschaft aber auch wegen Unvertrautheit mit dem deutschen Nachkriegselement, jetzt erst Polen zu werden. Natürlich – wie konnte es anders sein – zu „besseren“ Polen. Sie fingen an, sich mit Polen zu umgeben, ihre Gesellschaft zu suchen, das Polnische zu glorifizieren und zu verklären, ganz wie ihre Pendanten auf der anderen, auf der deutschen Seite es mit dem Deutschtum – oder was sie dafür hielten taten.
Ihre deutschen Pässe gaben sie aber bei all dem Schabernack nicht ab.
Beide Seiten fingen verstärkt an, mit Chauvinismus hausieren zu gehen. So erwarben sich die Polen mit ihrem Verhalten uns gegenüber große Verdienste ob unseres Deutschtums wegen, und dieses wiederum, pur auf westdeutsch genossen, führte der polnischen Plazenta teilweise ihre fast verlorenen Kinder wieder zu.
Unseres Problem war nicht die geographische Vertreibung mit all ihren schrecklichen Begleiterscheinungen – wir gingen ja freiwillig. Unseres Problem war und teilweise immer noch ist, in der Heimat, nicht sein zu dürfen was wir sind und was wir auch sein wollten, auch daß sie, die Heimat, einem von uns als fremd empfundenen Staat angehört, und in Westdeutschland nur selten als das zu gelten, was wir sind und was wir in jedem Falle auch bleiben wollen. Es war und es ist eben schwer, ein polnischer Deutscher zu sein.
Wir sind auf eine andere Art Vertriebene, in mancher Hinsicht schlimmer, denn hoffnungsloser, als unsere deutschsprachigen Leidensgenossen. So wie sie, sind wir der Naturalisation durch unsere gegenwärtige Umgebung preisgegeben. Hier, in Westdeutschland, sprechen schon die meisten unserer Kinder kein Polnisch mehr.
An der Oder wird das deutsche Bewußtsein mit den Jahren wohl ganz verschwinden. Unsere Mundart jedoch wird dort allen hysterischen und abfälligen Unkenrufen der vergangenen, kranken Zeiten aller Voraussicht nach noch nach Generationen ertönen. Vorläufig wird man mit uns – mit uns, die wir polnisch sprechen, uns aber für Deutsche halten – noch leben müssen. Hier und dort.
III
Die letzen etwa 15 Jahre brachten eine Besserung der Lage. Wir, die „Spätaussiedler“ vervollständigten unsere Weltansicht, lernten die unterschiedlichen Entwicklungen kennen und akzeptieren. Die Westdeutschen wiederum wandten sich der jüngsten deutschen Geschichte zu und der Welt im Osten. Die Medien verbreiteten die Kunde vom „Spätaussiedler“ und seiner Heimat. Heute löst die Antwort: „Ich bin ein Oberschlesier“ nicht mehr dasselbe Erstaunen und Unverständnis aus, als ob man „Ich bin ein Alien“ gesagt hätte. Im Gegenteil: Fast immer bekommt man ein von zufriedener Informiertheit zeugendes „Aha“ zu hören. Das tut gut. Es tut gleichermaßen gut, die Heimat jetzt in einem freiheitlichen Staat zu wissen.
Trotzdem gibt es sie immer noch, die Großen Klugen Westdeutschen, die ihre Ähnlichkeit mit der Generation ihrer Väter nicht wahr haben wollen und auch keine Aussöhnung weder mit diesen noch mit sich selbst. Die Großen Klugen Westdeutschen, die so tun, als ob der Verlauf der Geschichte ihnen eine Wahl gelassen hätte, die Auslandsdeutschen aufzunehmen oder nicht; als ob er ihnen die Wahl gelassen hätte, Für oder Wider die deutsche Wiedervereinigung zu sein.
Es sind dieselben Großen Klugen Westdeutschen, die den Krieg ihrem eigenen Bekunden nach erst am 3. Oktober 1990 verloren haben und es der Welt – allen voran den Ostdeutschen – nicht verzeihen wollen, denn sie wären gerne für immer Sieger geblieben, weil sie, ach, so Groß, so Klug, – so Schön sind.
Alfred Bartylla-Blanke
Veröffentlicht im März 2001 auf Slonsk.de
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